Ausschnitte aus hck: "Philosophie der Renaissance": Teil 4
Hier nun der vierte Teil der Ausschnitte aus meinem 2014 erschienenen Einführungsband
zur Philosophie der Renaissance. Zum Kontext und für Auszüge aus dem
Kapitel "München 2013" siehe hier. Auszüge aus dem vorigen
Kapitel ("Padua 1408") gibt's hier.
"
Florenz 1434
1434, das ist das Jahr, in dem Leon
Battista Alberti[1]
gemäß seiner (Auto???)biographie[2]
in 90 Tagen die ersten drei Bücher seines Werkes De familia[3] verfasst.[4]
Florenz,[5]
das ist die Stadt seiner Familie,[6]
die Stadt auf die dieses Werk zielt, Stadt in der Alberti gemäß der Angabe den
Text in Rom verfasst zu haben nicht
war als er jene drei Bücher schrieb, Florenz ist eine Stadt die Alberti im
selben Jahr 1434 - oder vielleicht auch erst 1435 - zum ersten Mal nachweisbar
betritt,[7]
ist die Stadt in deren Sprache (estrusca
- Toskanisch) er den Text verfasst, die Stadt deren Bibliotheken noch heute den
Hauptteil der Handschriften des Werkes enthalten.[8]
Abgesehen von einer erheblichen
Bearbeitung von Buch III durch einen anderen Autor:[9]
17 Handschriften überliefert (davon eine eine
Abschrift einer der anderen 16) und keinerlei bekannte
rinascimentale Drucke: dies ist alles andere als viel im Vergleich zu
den mindestens 52 Handschriften plus mindestens 9 Druckauflagen von Paulus Venetus Summa naturalis philosophie[10]
ganz zu schweigen von den mindestens 254 Handschriften
und mindestens 26+12+29 Druckausgaben[11]
von Petrarcas De remediis utrisque fortune.[12]
Und ob das, was in Albertis Text verhandelt wird,
im 14. bis zum 17. Jahrhundert nicht in anderen Texten mindest zum Teil
mindestens ebenso lesenswerte Diskussion gefunden habe, ist wohl nicht objektiv
zu sagen, ist gewiss nicht offensichtlich affirmierbar.[13]
Weder in der mehr oder minder
zeitgenössischen Wirkung und Verbreitung, noch in etwaiger "Exemplarität"
des Textes qua Text, noch in der (unbestrittenen) Qualität des Textes liegt der
Grund seiner Behandlung hier. Ich
behandle den Text hier nicht um seiner selbst willen, sondern aus dem
Bewusstsein heraus, dass ideengeschichtliche bzw.
philosophiehistorische Texte (wie der, dessen Teil
dieser Satz ist) die Erkenntnis wirkmächtiger Traditionen,
in denen sie (gleich ob zustimmend oder widersprechend) stehen,
anerkennen sollten.
Mehr als - soweit mir erkennbar -
jeder andere Text hat Jacob Burckhardts
Die Cultur der Renaissance in Italien[14] (Erstdruck
1860)[15]
zumindest im deutschen (und wohl auch englischen Sprachraum) bis heute
nachhaltig die Vorstellungen zur Renaissance als Epoche[16]
und insbesondere zu ihrer Geistesgeschichte geprägt. Als virtuoses Werk des 19.
Jahrhunderts bewundernswert, scheint doch
erklärungsbedürftig (und ist mir bislang unerklärlich), dass es
nicht als solches, sondern als zeitunabhängig
grundlegender und gültiger Grundstein der Renaissancestudien rezipiert wurde
und wird.[17]
Ihr Zweiter Abschnitt: Entwicklung des Individuums[18] ist in den
"völlig ausgebildeten Menschen"[19]
gewidmeten Absätzen, den Ausführungen Burckhardts zum "allseitigen
Menschen", zum "uomo universale"[20]
Leon Battista Alberti die zentrale Figur.[21]
Schon bevor Alberti selbst Gegenstand dieses Kapitels wird wird eines seiner
Werke, eben De Familia, davon das
dritte Buch in der oben erwähnten stark überarbeiteten Fassung (für die
Burckhardt Albertis Autorschaft als Hypothese bekannt ist)[22]
zum Beleg des "Individualismus"[23]
auch bei Verlierern politischer Auseinandersetzungen:[24]
[1]
Zu Alberti in philosophischer
Hinsicht siehe insbesondere: Eckhard Keßler:
Die Philosophie der Renaissance: das 15.
Jahrhundert, München [C.H. Beck] 2008, pp. 42-50 und pp. 205-208 (und die
dort genannte Literatur). Ebenfalls durchweg der Lektüre wert und reich an
nützlichen bibliographischen Angaben: Anthony Grafton: Leon Battista
Alberti: Master Builder of the Italian Renaissance, New York [Hill and Wang] 2000 (hiervon gibt es eine parallele
Ausgabe London [Allen Lane The Penguin Press] 2001 und eine - von mir nicht
eingesehene deutsche Übersetzung (Leon
Battista Alberti: Baumeister der Renaissance [Berlin : Berlin Verlag]
2002). Eine hervorragende Bibliographie der zwischen 1995 und 2010 zu Alberti
erschienen Literatur (und Links zu weiterem) bietet Michel Paoli & Francesca Garibotto:
Leon Battista Alberti (1404-1472) :
Bibliografia 1995-2010 (2011-02-17), URL http://alberti.wordpress.com/
.
[2]
Zur Autorschaft des Textes siehe
unten, Fußnote 30.
[3] Italienischer
Text: Leon Battista Alberti (ed.
Francesco Furlan): I libri della famigliaTorino [Giulio
Einaudi] 1999 (im Folgenden zitiert als DFit). Deutsche
Übersetzung durch Walter Kraus
(mir ist nicht bekannt auf Basis welcher Textvorlage): Leon Battista Alberti: Vom Hauswesen (Della Famiglia), München [Deutscher Taschenbuch
Verlag] 1986 (ursprünglich vermitlich erschienen Zürich 1982, weitere Ausgaben
vorhanden, im Folgenden zitiert als DFdt). Soweit m.E. sinnvoll
möglich (will heißen wo nicht Probleme der Übersetzung dem m.E. kräftig
entgegenstehen) zitiere ich in diesem Kapitel - dem einführenden Charakter des
Werkes gemäß - aus DFdt.
Für
Interpretationen von und Literaturverweise zu De famiglia siehe Anthony Grafton:
Leon Battista Alberti: Master Builder of
the Italian Renaissance, New
York [Hill and Wang] 2000, pp. 142-182 (auch extrem lesenswert zu den Kontexten
des Textes!), und Sabrina Ebbersmeyer:
Homo agens: Studien zur Genese und
Struktur frühumanistischer Moralphilosophie, Berlin [De Gruyter] 2010, pp.
256-279.
[4]
Zu den Angaben in jenem
biographischen Text zur Entstehung von De
Familia siehe Roberto Cardini: Alberti e Firenze in: Roberto Cardini & Mariangela Regoliosi (edd.): "Alberti e la
cultura del Quattrocento : atti del convegno internazionale del Comitato
nazionale VI centenario della nascita di Leon Battista Alberti, Firenze,
16-17-18 dicembre 2004", Firenze [Polistampa] 2004 (ich habe die
elektronische Version verwendet), pp. 223-266, hier pp. 248-253 und die dort
angegebene Literatur (auch zur Entsehungsgeschichte von De familia insgesamt!) und Anthony Grafton: Leon Battista
Alberti: Master Builder of the Italian Renaissance, New York [Hill and Wang] 2000, pp. 154-156. Zur
Entstehungsgeschichte und Überlieferung siehe ebenfalls (und keinesfalls
nachrangig!) Francesco Furlan: Nota al testo in: Leon Battista Alberti: "I libri della famiglia
... Nuova edizione a cura di
Francesco Furlan", Torino [Giulio Einaudi] 1999, pp. 429-478, hier pp.
431-461. Siehe auch
Anthony Grafton: Worlds Made by Words: Scholarship and
Community in the modern West Cambridge (Mass.) & London [Harvard
university press] 2009, p. 42 & p. 338sn27 zu Überarbeitungen und ihren
Anlässen und Kontexten.
[5]
Zur Geschichte von Florenz siehe
zur Einführung: John F. Najemy:A history of Florence 1200-1575,
Chichester [Blackwell] 2008. (Zu einzelnen Punkten - last not least "civic
humanism" sollte weitere Literatur herangezogen werden, z.B.: James Hankins (ed.): Renaissance civic humanism: Reappraisals and Reflections, Cambridge
[Cambridge university press] 2000.) Zu politischem in De familia und zur Figur des Messer Benedetto siehe Luca Boschetto: Memoria familiare e passato cittadino negli scritti di L. B. Alberti
in: Лидия Михайловна Брагина (ed.):
"Леон Баттиста Альберти и культура Возрождения", Moskva [Nauka] 2008,
pp. 5-24.
[6] Ein
von Leon Battista Alberti selbst
(1438/1440 mit späteren Ergänzungen) erstellter Stammbaum der Familie Alberti
findet sich (ediert und kommentiert durch Lucia Bertolini) in: Paolo Benigni,
Roberto Cardini, Mariangela Religiosi & Elisabetta Arfanotti (edd.): Corpus epistolare e documentario di Leon Battista Alberti Firenze
[Polistampa] 2007, pp. 164-176, spec. p. 166s und als Facsimilie in Paolo Benigni,
Roberto Cardini, Mariangela Religiosi & Elisabetta Arfanotti (edd.): Corpus epistolare e documentario di Leon Battista Alberti Firenze
[Polistampa] 2007, pp. 441-443. Ein ausführlicher Stammbaum findet sich
in Fritz Schalk: Einleitung in: Leon Battista Alberti: "Vom Hauswesen (Della
Famiglia)", München [Deutscher
Taschenbuch Verlag] 1986, p. [XXXIV]s.
[7] Roberto
Cardini: Alberti e Firenze in: Roberto Cardini & Mariangela Regoliosi
(edd.): "Alberti e la cultura del Quattrocento : atti del convegno
internazionale del Comitato nazionale VI centenario della nascita di Leon
Battista Alberti, Firenze, 16-17-18 dicembre 2004", Firenze [Polistampa]
2004 (ich habe die elektronische Version verwendet), pp. 223-266, hier p. 229
& p.229n21.
[8] 10+1
der 16+1 überlieferten Handschriften (siehe Francesco Furlan: Nota al testo in:
Leon Battista Alberti: "I libri
della famiglia ... Nuova edizione a cura di Francesco Furlan", Torino
[Giulio Einaudi] 1999, pp. 429-478, hier pp. 431-436.
[9] siehe
Francesco Furlan: Nota al testo in: Leon Battista Alberti: "I libri della famiglia
... Nuova edizione a cura di Francesco Furlan", Torino [Giulio Einaudi]
1999, pp. 429-478, hier p. 436 & p436n2.
[10]
siehe voriges Kapitel.
[11]
Siehe Heinrich C. Kuhn: Spannungen und Spannendes in Petrarcas Schrift über die Heilmittel
gegen beiderlei Fortuna in " Petrarca 2004 in München! : Texte von
Beiträgen zur Interdisziplinären Vortragsreihe durch Münchner Gelehrte zur
Feier der 700. Wiederkehr des Geburtstags Francesco Petrarcas im Sommersemester
2004" (2004-09-22), URL: http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/SekLit/P2004A/Kuhn.htm
, Fußnote 6 sowie im Haupttext http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/SekLit/P2004A/Kuhn.htm#Stelle6
bis http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/SekLit/P2004A/Kuhn.htm#Stelle15
und Heinrich C. Kuhn: Petrarcas "De remediis": Ethik
ohne Richtschnur? (2007-08-20, URL: http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/php/Kuhn/ePub/Pet05/20070820.htm
, gedruckt in abweichender Fassung in Sabrina Ebbersmeyer und Eckhard Keßler
(edd.): "Ethik - Wissenschaft oder Lebenskunst? - Modelle der
Normenbegründung von der Antike bis zur Frühen Neuzeit", Berlin [Lit]
2007), pp. 127-141 : "Mindestens
254 Handschriften, deutlich mehr als für jedes andere lateinische Werk
Petrarcas sind uns von De remediis erhalten. Willard Fiske hat für die Zeit bis
1650 26 vollständige und 12 unvollständige Druck-Ausgaben des Lateinischen
Textes gezählt, dazu für Druckausgaben
von Übersetzungen: 1 Tschechische, 1 Niederländische, 1 Englische, 3
Französische, 12 Deutsche, 4 Italienische, 6 Spanische, 1 Schwedische. Die
Ausgaben reichen vom Folianten für die Bibliothek bis zum echten Taschenbuch,
für den intendierten Gebrauch als Vademecum: gerade mal 10.4 mal 7.4 mal 2.5 cm
misst etwa der Buchblock der Genfer Stœrschen Ausgabe von 1628.",
Siehe auch die dort angegebene Literatur. Siehe zur rinascimentalen Verbreitung
auch die Literaturangaben bei George W. McClure):
Sorrow and consolation in Italian
humanism, Princeton: [Princeton University Press] 1991, p. 207n38. Zur Fortuna des Werkes siehe auch: Manfred
Lentzen: La fortuna del "De remediis utriusque fortunae" del Petrarca
nei paesi di lingua tedesca; Sebastian Brandt e il Petrarca, in: Luisa
Secchi Tarugi (ed.): "Francesco
Petrarca : L'opera latina: Tradizione e fortuna : Atti del XVI Convegno
internazionale (Chianciano-Pienza 19-22 luglio 2004", Firenze [Franco
Cesati] 2006,, pp. 361-372.
[12]
Dies ist der Text der im Kapitel
"Prag 1356" die ausführlichste Behandlung erfahren hat.
[13]
Wer Albertis Text kennt und des
Augustinus Niphus Texte nicht kennt möge erwägen auf des letzteren De vera vivendi libertate und De divitiis (beide zugänglich über URL http://www.uni-mannheim.de/mateo/itali/autoren/nifo_itali.html
) einen Blick zu werfen ... . Zu weiteren Œconomica
betreffenden Texten siehe weiter unten in diesem Kapitel hier.
[14]
Von mir im folgenden zitiert nach
Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther): Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a.M. [Deutscher
Klassiker Verlag] 1989.
[15]
Der Erstdruck ist in
digitalisierter Form als Scan zugänglich unter
http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/burckhardt1860a/ bzw.
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-diglit-34787 .
http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/burckhardt1860a/ bzw.
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-diglit-34787 .
[16]
Das Konzept der Renaissance als
Epoche geht nicht auf Burckhardt sondern auf den heute weit weniger rezipierten
Jules Michelet (Renaisance et reforme:
Histore de France au XVIe siècle, Paris [Robert Lafont] 2005 -
Vorwort datiert auf den 15. Januar 1855) zurück, den Burckhardt durchaus kennt
-und zitiert (s.u.).
[17]
Dies Ausführungen z.B. Horst Günthers im Kommmentar zu seiner Ausgabe des Textes (Jacob Burckhardt [ed. Horst Günther]:
Die Kultur der Renaissance in Italien,
Frankfurt a.M. [Deutscher Klassiker Verlag] 1989, p. 1003) scheinen mir eher
Teil des Phänomens, Beleg solcher Rezeption, als Erklärung: "... Weil es nicht veraltet ist und weil es
gar kein Interesse am Stoff erfordert, die Lektüre zu rechtfertigen. Es ist die
Jugendgeschichte des modernen Europäers, und nur aus diesem Grunden handelt es
von Ersceinungen des 14. und 15. Jahrhunderts in Italien. [...] Die
autobiographische Neugier an der Menschwerdung und an dem Selbstbewußtwerden
des modernen Geistes hat diesem Buch seine Leser zugeführt und erhalten."
Der Artikel der Deutschen Wikipedia zu Renaissance
(Stand 2010-07-21, 08:22h: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Renaissance&oldid=76900633 )
zitiert Burckhardts Werk in zwei Fußnoten (zu Fortleben der Antike und Bildung)
als Sekundärliteratur ohne neueres zu diesen Themen zu verwenden, ähnlich, wenn
auch mit deutlich geringerem Gesamtanteil an der zitierten Literatur auch der
entsprechende und gleichnamige Artikel der englischen Wikipedia (Stand
2010-7-29, 10:34h: http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Renaissance&oldid=376065089 ).
[18]
Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther):
Die Kultur der Renaissance in Italien,
Frankfurt a.M. [Deutscher Klassiker Verlag] 1989, pp. 137-174: zusammen mit dem
vierten ("Sie Entdeckung der Welt und des Menschen") wohl das am
stärksten breit rezipierte Kapitel des ganzen Werkes.
[19]
"Zunahme völlig ausgebildeter Menschen": Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther): Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a.M. [Deutscher
Klassiker Verlag] 1989, p.142.
[20]
Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther):
Die Kultur der Renaissance in Italien,
Frankfurt a.M. [Deutscher Klassiker Verlag] 1989, pp. 142-147; p. 143: "dann entstand der 'allseitige Mensch',
l'uomo universale".
[21]
Zu Alberti dort Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther): Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a.M. [Deutscher
Klassiker Verlag] 1989, pp. 145-147; Leonardo da Vinci wird zwar höher
gepriesen (p. 147: "Und zu
Alberti verhielt sich Lionardo da Vonci wie zum Anfänger der Vollender, wie zum
Dilettanten der Meister"), aber nur in zwei Sätzen (statt auf mehr
als zwei Seiten) behandelt.
[22]
Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther):
Die Kultur der Renaissance in Italien,
Frankfurt a.M. [Deutscher Klassiker Verlag] 1989, p. 141n5 und p. 301sn21.
[23]
Burckhardts Terminus: Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther): Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a.M. [Deutscher
Klassiker Verlag] 1989, pp. 140.
[24]
Jacob Burckhardt (ed. Horst Günther):
Die Kultur der Renaissance in Italien,
Frankfurt a.M. [Deutscher Klassiker Verlag] 1989, pp. 140s. Fettungen durch
mich.
<...>
Exkurs
Weder Albertis
Lionardo noch Albertis Giannozzo haben erkennbare Erwartungen an - oder gar
Wertschätzung für - weibliche intellektuelle Aktivität. Und die vorliegende
Darstellung bietet – von diesem Exkurs hier abgesehen - keine Behandlung von Philosophinnen der Renaissance. Nicht
weil es sie nicht gegeben hätte. Es gab sie.[1]
Und es gab
herausragende: Zum einen Christine de
Pisan:[2]
die erste postantike Person überhaupt, die allein von ihren nicht im Rahmen
einer offiziellen Stellung verfassten Texten (und nicht von Pfründen, Gehalt/Besoldung,
Einkommen als Mitglied eines Hofes, Gesandtentätigkeit ...) leben konnte.[3]
Unter ihren zahlreichen Werken ist vermutlich heute am leichtesten zugänglich
ihr Buch von der Stadt der Frauen (Libre
de la cité des dames).[4]
Die andere ist Marie de Gournay,[5]
Herausgeberin Montaignes, Autorin zahlreicher eigener Texte, darunter Le Proumenoir de Monsieur de Montaigne -
bereits als Text dessen Primäraddressat
zum Zeitpunkt der Veröffentlichung durch Marie de Gournay verstorben war, als
Text dessen Leserinnen und Leser ihn als einen Text lesen, der ihnen als Nichtprimäradressaten nie so
verständlich sein kann wie der Autorin, von beträchtlichem Interesse, und inhaltlich auch.[6]
Zu jeder von
beiden Autorinnen ein Kapitel in den vorliegenden Band aufnehmen (inklusive der
Bezugnahme auf weitere Autorinnen der Renaissance von [potentiellem]
philosophischem Interesse)? Damit "gender awareness" zeigen oder
vortäuschen, den Eindruck erwecken die Renaissance sei eine Periode gewesen, in
der philosophierende Frauen solches Gewicht gehabt hätten, dass sie weitaus
prominentere Behandlung verdient hätten, als Philosophinnen in den Zeiten die in anderen Bänden die anderen Zeiten
gewidmet sind? Die Renaissance als eine Periode präsentieren, in der im Rahmen
der "Entdeckung des Menschen"[7]
auch eine Entfaltung von Philosophinnen Konjunktur gehabt hätte?[8]
Insinuieren ihre meist unprominente oder gar fehlende Diskussion in (den
meisten?) bisherigen Überblicksdarstellungen zur Philosophie der Renaissance
sei allein (oder zumindest primär) Folge unreflektierter Weiterführung maskulin
fokussierter Rezeptionstraditionen?
Dies wäre nicht
ehrlich.[9]
Und es wäre nicht fair. Vor allem: nicht fair gegenüber den philosophierenden
wie den nicht-philosophierenden Frauen der Renaissance.[10]
Diskriminierende Ansichten und Umstände allenthalben, doch: Der Hauptgrund der wirkmächtigen
Benachteiligung der philosophierenden wie den nicht-philosophierenden Frauen
der Renaissance ist m.E. ein einfacher: Universitätsbesuch war Männern
vorbehalten. Ohne lernenden Zugang zu Universitäten (von lehrendem Zugang ganz
zu schweigen), ausgeschlossen aus den Einrichtungen in denen (damals wie heute)
philosophische Diskussionen ihren primären Ort hatten, ohne die Möglichkeit, in Disputationen
Argumente und Argumentationen zu entwickeln und auf ihre Kraft zu prüfen, im lebendigen
Austausch unterschiedliche Interpretationen und Positionen zu wägen,
Auseinandersetzung mit Philosophie in Breite und innerem wie äußerem Kontext zu
erfahren,[11]
ohne all das: waren Frauen in keiner Lage die ihnen das Philosophieren so
ermöglicht hätte wie es Männern möglich war.[12]
Die Renaissance war keine gute Zeit für Philosophinnen und andere Frauen die es
hätten werden können. Ich habe mich bewusst entschieden, in diesem Band das entsprechende Dunkel nicht
durch angemessen ausführliche Behandlung Christine de Pisans und Marie de
Gournays zu überstrahlen, die Lücke nicht durch kursorische
Behandlung/Erwähnung einiger anderer zu überdecken.[13]
[1]
Für einen ersten
(italienzentrierten) Blick auf intellektuell tätige Frauen
("Humanistinnen") und eine Basisbibliographie älterer Literatur siehe
Hanna-Barbara Gerl: Einführung in die Philosophie der Renaissance,
Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1989, pp. 28-31, insbes.
p.30n33 & p. 31n34. Nur für Italien (und nicht auf die Renaissance
beschränkt, und mit bibliographischen Angaben die z.T. über Italien und die
Reanaissance hinausreichen): Letizia Panizza
& SharonWood (edd.): A History of Women's Writing in Italy,
Cambrifge [Cambridge University Press] 2000, darin insbes. Penny Morris (ed.): Bibliographical
guide to bwomen writers and their work (pp.282-337) und die Bibliography pp. 338-350. Für Italien,
Frankreich, i.w.S. deutschsprachige Territorien, die Niederlande, Spanien,
Ungarn, England siehe Kathrine M. Wilson
(ed.): Women writers of the
Renaissance and Reformation, Athens and London [The University of Georgia
Press] 1987. Eine hervorragende Bibliographie (u.a. mit Verweisen auf
weitere Bibliographien) zu englischsprachiger Literatur zu Autorinnen der Zeit zwischen ca. 1400 und ca. 1700 ist: Margaret King & Albert Rabil, Jr. (edd.):
The Other Voice In Early Modern Europe :
Series Bibliography : A Comprehensive English Language Bibliography,
2011-01-18, URL http://www.othervoiceineme.com/othervoicebib.html
(gesehen 2011-03-02). Primärliteratur auf englisch, zweisprachig,
und in englischer Übersetzung findet sich reichlich in der herrausragenden, ebenfalls
von Margaret King und Albert Rabil, Jr. herausgegebenen und in
Chicago und Toronto veröffentlichten (Doppel-)Reihe The Other Voice in Early Modern Europe (Informationen zu dieser
(doppel-)Reihe und ihren Bänden ist erhältlich unter/via Margaret King & Albert Rabil, Jr.: The Other Voice in Early Modern Europe (2011-02-23),
URL http://www.othervoiceineme.com/index.html
(gesehen 2011-03-02).
Dass in dieser
Fußnote bisher nicht von "Philosophinnen", sondern von
Autorinnen, Schriftstellerinnen, Humanistinnen, intellektuell tätigen Frauen
die Rede war ist signifikant: Nur extrem wenige dieser Autorinnen ließen sich
auch mit einem "engen" (an den Gegenständen und Genres universitärer
Philosophie jener Zeit und an Rezeptions- und Zitationsnetzwerken orientierten)
Philosophiebegriff als Philosophinnen bezeichnen. Genug der Texte sind
bemerkenswert, lesenswert genug um es lohnend zu machen sie mit einem
"weiteren" (an Traditionen des 20. und 21. Jahrhunderts orientierten)
Philosophiebegriff (philosophisch/philosophiehistorisch) zu lesen. Aber man
sollte sich nicht der Illusion hingeben die meisten in solchem Sinne
philosophierenden Frauen der Renaissance wären integrierter Teil der (schon
rein numerisch [hierzu sehe man Wilhelm Risses Bibliographia
philosophica vetus. - Repertorium generale systematicum operum philosophicorum
usque ad annum MDCCC typis impressorum : Hildesheim [Olms] 1998 {11 Bände}]
primär von Männern betriebenen) Philosophien der Renaissance gewesen - sie
waren es (wie auch das Zitationsverhalten der meisten ihrer männlichen Kollegen
zeigt) nicht.
[2]
Die Literatur zu Christine de
Pisan und ihren Schriften ist umfangreich, und: da Christine de Pisans Werke
auch von Interesse in Kontexten sind die nicht die Autorin (oder gelehrte
Frauen der Renaissance) zum eigentlichen Gegenstand haben, durchaus nicht nur
auf Werke zu Christine de Pisan und/oder gender
studies beschränkt; Christine de Pisan wurde und wird als Philosophin und
nicht ("nur") als Philosophin
rezipiert. Für einen (durch Verwendiung weiterer bibliographischer
Rechercheinstrumente zu ergänzenden) Überblick über einen großen Teil der
einschlägigen Literatur siehe Angus J. Kennedy
(=Anhus Johnston Kennedy): Christine de Pizan: a bibliographical guide,
London [Grant & Cutler] 1984 (= "Research Bibliographies &
Checklists" ; 42) plus Angus J.
Kennedy: Christine de Pizan: a
bibliographical guide : Supplement 1, London [Grant & Cutler] 1994
<recte 1995?> (= "Research Bibliographies & Checklists" ;
42.1) plus Angus J. Kennedy: Christine de Pizan: A Bibliographical Guide
: Supplement 2, Woodbridge [Temesis] 2004 (= "Research Bibliographies
& Checklists : New Series" ; 5) (siehe hierzu auch die Rezension
Andrea Tarnowski in "Medium
Aevum" 2005.1 (2005), p. 142s, Text auch eletronisch zugänglich unter URL http://findarticles.com/p/articles/mi_hb6408/is_1_74/ai_n29224899/
(gesehen 2011-03-03)); vgl. auch Barbara K. Altmann & Deborah McGrady
(edd.): Christine de Pizan: A Casebook,
London [Routledge] 2003 (Rez. durch Leslie C. Brook in "Medium Aevum" 2005.1 (2005), p.142s) plus Dorothy
Disse: Christine de Pizan /Pisan (c.1364-aft.1429), (Teil von "Other
Women's Voices"), 2011-02-20, URL http://home.infionline.net/~ddisse/christin.html#anchor414134
(gesehen 2011-03-03).
[3]
Für einen ersten Überblick zu
Christine de Pisan immer noch empfehlenswert: Régine Pernoud (trans. Sybille A. Rott-Illfeld):
Christine de Pizan: Das Leben einer
außergewöhnlichen Frau und Schriftstellerin im Mittelalter, München
[Deutscher Taschenbuch Verlag] 1990. Ebenfalls zur Einführung geeignet sind
zwei Sammelbände zu Christine de Pisans Leben und Kontexten, Werk, Wirkung:
John Campbell & Nadia Margolis (edd.): Christine de Pizan 2000: Studies on Chriistine de Pizan in Honour of
Angus J. Kennedy, Amsterdam & Atlanta [Rodopi] 2000 und Barbara K. Altmann & Deborah L. McGrady (edd.): Christine de Pizan : A Casebook, New York & London [Routledge]
2003.
Auf wen die
Beobachtung, dass Christine den Pisan die erste postantike Person überhaupt war,
die allein von ihren nicht im Rahmen einer offiziellen Stellung verfassten
Texten (und nicht von Pfründen, Gehalt/Besoldung, Einkommen als Mitglied eines
Hofes, Gesandtentätigkeit ...) leben konnte der Sache nach ursprünglich
zurückgeht, weiss ich nicht; neu ist sie nicht.
[4]
Ed. crit. durch Maureen Curnow (The Livre De La Cité Des Dames Of Christine De Pisan: A Critical
Edition, Nashville 1975 [Typoskript, zahlreich vervielfältigt, Unterstreichung
auf der Titelseite, 2 Bände]); deutsche Übersetzung durch Margarete Zimmermann: Christine de Pisan: Das Buch
von der Stadt der Frauen, Berlin [Orlanda Frauenverlag] 1986. (Es gibt zwei
weitere kritische Ausgaben des Textes: Monica Lange (ed.): Livre de la cité
des dames: Kritische Textedition auf Grund der sieben überlieferten "manuscrits
originaux" des Textes, Hamburg 1974 [von mir nicht eingesehen] und
Earl Jeffrey Richards (ed.): Christine de Pisan (intr. [& trans.
ital.?] Patrizia Caraffi): La Città delle Dame, Roma [Carocci] 2010
[Erstdruck vermutlich 1997]; dafür mich auf diese Ausgabe aufmerksam gemacht zu
haben danke ich Corinna Kübler [die selbst, wie auch ich, weiterhin primär die
Ausgabe Curnows nutzt: Kathrin Corinna Kübler:
Das Gliselidis-Exemplum im Kontext der
constance von Männern und Frauen im Livre de la Cité des Dames von Christine de
Pizan, München 2009, URL http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/SekLit/maCK110715.pdf
(gesehen 2011-11-14)].). Zu
diesen Editionen siehe Nadia Margolis:
Modern Editions : Makers of the
Christinian Corpus, in: Barbara K. Altmann & Deborah L. McGrady
(edd.): "Christine de Pizan : A Casebook", New York & London
[Routledge] 2003, pp. 251-270, spec. p. 264 & p.270n56.
[5]
Eine umfassende Bibliographie (entsprechend
denen Kennedys zu Christine de Pisan) liegt soweit mir bekannt für Marie de
Gournay leider nicht vor. Für einen ersten Start durchaus geeignet ist Dorothy Disse: Marie le Jars de Gournay (1565-1645), (Teil von "Other Women's
Voices"), 2011-02-01, URL http://home.infionline.net/~ddisse/gournay.html
(gesehen 2011-03-03).
[6] Marie
de Gournays Werke stehen in zwei
Bänden zur Verfügung: Marie de Gournay
(Jean-Claude Arnould et al. edd.): Œuvres complètes, Paris [Honoré Champion]
2002.
[7]
S.o. zu Burckhardt. Zudem: Jacob
Burckhardt [ed. Horst Günther]: Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a.M. [Deutscher
Klassiker Verlag] 1989, p. 388: "Zum
Verständnis der höheren Geselligkeit der Renaissance ist endlich wesentlich zu
wissen, daß das Web dem Manne gleich geachtet wurde. Man darf sich ja nicht
irre machen lassen durch die spitzfindigen und zum Teil boshaften
Untersuchungen über die vermutliche Inferiorität des schönen Geschlechtes, wie
sie bei den Dialogschreibern hin und wider vorkommen" und p. 390:
"Von einer aparten, bewussten
'Emanzipation' ist gar nicht die Rede, weil sich die Sache von selber verstand".
Lorna Hutson beginnt mit Verweisen
auf diese beiden Passagen ihre Introduction
(pp. 1-17, hier p.) zu dem von ihr herausgegebenen Band Feminism and Renaissance Studies, Oxford [Oxford University Press]
1999. Erwähnt sei noch, dass die "lebenden Seitentitel" von Jacob Burckhardt [ed. Horst Günther]: Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a.M. [Deutscher
Klassiker Verlag] 1989 für die Seiten 388/389 lauten: "DAS WEIB DEM MANNE GLEICH DURCH ... || ...
BILDUNG, POESIE, INDIVIDUALISMUS".
[8]
Und: second to last, but anything
but least: Hoffen hierdurch philosophiehistorisch
interessierte Leserinnen dieses
Textes zur Beschäftigung mit der Geistesgeschichte und Philosophie der
Renaissance zu bewegen?
[9]
Bislang habe ich noch keinen
Text gefunden, der die These verträte das
Gros der von Frauen der Renaissance verfassten Texte von philosophischem
Interesse entspräche (oder überträfe gar) nach Qualität der Texte und Breite
der behandelten Themen dem Gros der
von ihren männlichen "Kollegen" verfassten Texte (wobei zudem es sehr
zweifelhaft ist ob es bei an Universitäten oder in universitären Kontexten
tätigen Philosophen sinnvoll möglich ist von "Kollegen" der Philosophinen zu sprechen - siehe hierzu weiter
unten). Dass die Texte einer Christine de Pisan weit fasszinierender, nach
Ansicht wohl jeder ihrer heutigen Leserinnen und Leser auch "besser"
(was auch immer "besser" jeweils bedeuten mag) sind als die fast
aller männlichen Autoren ihrer Zeit: geschenkt. Aber zwei Schwalben machen
keinen Sommer. Ein sinnvoller Vergleich, ein Vergleich geeignet zur Bewertung
bzw. Einordnung philosophisch interessanter Texte von Frauen der Renaisance:
ein solcher Vergleich ist nur möglich im Blick auf die nicht-außergewöhnlcihen
Texte: und da fällt er eher ernüchternd aus. Man nenne mir eine einzige Logikerin, eine einzige Naturphilosophin, eine einzige Metaphysikerin der Renaissance, mehr als fünf
politische Philosophinen der
Renaissance deren Texte unabhängig vom Geschlecht der Autorin von
überdurchschnittlichem Interesse sind - und ich werde mehr umschreiben als nur
diese Fußnote hier. (All dies sagt nicht, dass das Gros der philosophierenden Frauen der Renaissance weniger zum
Philosophieren "begabt" gewesen wäre als das Gros der philosophierenden Männer der Renaissance. Die Ursachen
liegen m.E. an anderer Stelle. Man beende die Lektüre dieser Fußnote, setze die
Lektüre des Haupttextes fort.)
[10]
Der Artikel, der am folgenreichsten
den Blick auf die Lage von Frauen in der Tenaissance gelenkt hat, ist Joan Kellys (=Joan Gadol=Joan Kelly-Gadol)
1977 zuerst erschienener Text Did Women
Have a Renaissance (Joan Kelly: Did Women Have a Renaissance in: Lorna
Hutson (ed.): "Feminism and
Renaissance Studies", Oxford [Oxford University Press] 1999, pp. 21-47;
dieser Artikel sei auch als Start für Zitationsrecherchen zum Thema
nachdrücklichst empfohlen: gleich ob man Kelly zustiommz oder nicht: man wird
nicht umhin können ihren Text zu zitieren (und hoffentlich auch zu lesen). Der
von Lorna Hutson herausgegebene Band
Feminism and Renaissance Studies,
Oxford [Oxford University Press] 1999 eignet sich generell als Einstieg in
dieses Thema (und in diesem Band - abgesehen von Kellys Text - im Blick auf das
in dieser Einführung in die Philosophie der Renaissance verhandelte
insbesondere die Beiträge von Lorna Hutson selbst sowie Lisa Jardines Women Humanists: Education for what? [pp. 48-81]).
[11]
Auch studentische
"Bücherleihzirkel" und geminsamer studentischer Buchbesitz (man denke
an die häufigen mehre oder minder zeitgenössischen handschriftlichen
Besitzvermerke in Drucken der Renaissance "XYZi
et amicorum") sollten nicht unterschätzt werden.
[12]
Darüber dass jetzt da ich dies
schreibe im Fach Philosophie ein wohl wohl deutlich geringerer Anteil an Frauen
eine Doktorarbeit abschließt als eine Magisterarbeit, dass der Anteil
habilitierter Frauen geringer ist als der der promovierten, dass der Anteil der
Professorinnen geringer ist als der der Habilitierten (hier an der LMU München,
an der ich diese Zeilen schreibe, hatten wir
im Jahr 2011 - als diese Fußnote zuerst gerschrieben wurde - [von einer
Gastprofessorin und zwei "außerplanmäßigen" abgesehen] keine einzige
Philosophieprofessorin [bei 11 regulären, nicht-emiritierten Professoren, 2
Honorarprofessoren, 15 außerplanmäigen Professoren [bei diesen lesende wie
nicht-lesende gezwählt], 4 Gastprofessoren [Ludwig-Maximilians-Uniuversität München: Personen- und Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 2010/2011,
Lampertheim [Alpha Informations GmbH] 2010, pp. 572-575]), darüber bin ich mir
durchaus im Klaren, aber: ich kenne keine Aussage dass die durchschnittliche Qualität der Veröffentlichungen
heutiger Philosophinnen geringer
wäre als die durchschnittliche Qualität heutiger Philosophen, und kenne auch
keine Anhaltspunkte auf die sich eine solche Aussage sinnvoll stützen könnte.
[13]
Wieviele Philosophinnen es in der Renaissance gegeben
habe?: die Antwort auf diese Frage wird unterschiedlich ausfallen, je nachdem
einen wie weiten Philosophiebegriff man verwendet. Aber auf mehr als vier
Dutzend zu kommen dürfte schwer bis unmöglich sein. Und diesen gerade mal
(höchstenfalls) vier dutzend Philosophinnen
stehen dann tausende [siehe das Vorwort dieses Bandes] männlicher Philosophen
gegenüber.
<...>
Ein
vollständiger Zensus aller rinascimentalen Texte philosophischer Ökonomie, Familiäres
wie Extrafamiliäres betreffend, ist mir nicht bekannt. Ihre Zahl ist nicht
gering,[1]
ihre Vielfalt nicht unbeträchtlich.[2]
Nicolas Oresmes Abhandlung über Geld;[3]
die verschiedenen Ausgaben von Geoffroy de La Tour Landrys Buch für den Unterricht seiner Töchter;[4]
Albrecht von Eybs berühmtes Ehebüchlein[5]
und Francesco Barbaros De re uxoria[6];
Johannes Versors[7]
Liber yconomicorum Aristotelis tractans
de gubernatione rerum domesticarum cum commento magistri Johannis versoris
legentium aspectibus multum amenus[8]
- ein (Ps.-)Aristoteleskommentar, der z.B. schon
ziemlich zu Beginn[9]
die Frage nach der Einordnung monastischer Ökonomie in das in dem antiken Text Behandelte stellt; Antonio de
Guevaras Lob des Privatlebens über
das Hofleben und seine Anweisungen für festliche Zusammenkünfte;[10]
Dirk Volkertszoon Coornherts politische und ökonomische
Emblemata zu rechtem und falschem
Gebrauch von Dingen.[11]
Eine umfassende Übersicht zu primär nordalpinen Texten philosophischer
Ökonomik mit Schwerpunkt auf Aussagen zur Familie hat 2002 Joseph Freedman vorgelegt.[12]
Herausragend
sind unter den mir bekannten Texten rinascimentaler philosophischer Ökonomik
des Augustinus Niphus De divitiis von 1531,[13]
das auf das wiederholte Ersuchen seines Sohnes, er (A.N.) möge doch bitte
Reichtümer erwerben, um seinem Sohn einen größeren
Nachlass vererben zu können, antwortet, und Antoine de Montchrestiens Traicté de l'œconomie
politique von 1615,[14]
mit seiner systematischen Verbindung von Staatseinnahmenmehrung
und öffentlicher Wohlfahrt, von staatlichem und individuellem Handeln, von
ökonomischem und politischem Handeln, ein Text in dem es um
politisch-ökonomische Neuordnung Frankreichs geht, unter
Zugrundelegung der Vermutung einzelne Menschen handelten bestimmt durch das
Ziel ihres wirtschaftlichen Wohlergehens.
Zugänge zu
philosophischen Theorien und Schriften der Renaissance zu Familie wie zu
Ökonomik gibt es zahlreiche. Die diesbezügliche Prominenz des Textes
Albertis zeigt sich, so man nicht ihn als Ausgangspunkt und/oder zentrales Werk
nimmt, als Wirkung der Rezeption Albertis direkt oder indirekt via
Burckhardt, als historiographisches Artefakt. Wir sind frei in der Wahl unserer
Zugänge zu Themen wie Texten der Philosophie der Renaissance; unsere Wege sind
kontingent, und sollten begründbar unsere sein.
[1]
Es handelt sich um mehrere
hundert. Vgl. die (nur das 16. und 17. Jahrhundert betreffende, und auch für
diese Zeit durchaus nicht alle derartigen Werke umfassende [Vollständigkeit als
Ziel Freedmans sollte hier wohl auch nicht angenommen werden])
Primärbibliographie in Joseph S. Freedman:
Philosophical Writings on The family in
Sixteenth- And Seventeenth Century Europe in: "Journal of
Family History" 27 (2002), pp. 292-342, hier pp. 325-342.
[2]
Ich gebe im folgenden primär
Werke als Beispiel, die in vielen Bibliotheken und/oder im Internet verfügbar
sind, um Zugriff und eigene weiterführende Studien zu erleichtern.
[3]
Von der langanhaltenden Wirkung
dieses Werkes des 14. Jahrhunderts zeugt z.B. diese Ausgabe des 17.
Jahrhunderts: Nicolaus Oresmius: Tractatus De Mutatione Monetarum,
Helmstadi [Rabe] 1622, verfügbar unter URL http://diglib.hab.de/drucke/fg-163/start.htm
(gesehen 2011-03-18)
cf. etiam: Andreas Dinner (praes.) Paul Weber, Friedrich Becht & Daniel Imlin (respondentes): Disputationes Tres, De Monetae Mutatione, Quoad Solutionem, <Altdorf> [E Typographia Balthasaris Scherffii] 1622, verfügbar unter URL http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00030569/images/ (gesehen 2011-03-18)
cf. etiam: Andreas Dinner (praes.) Paul Weber, Friedrich Becht & Daniel Imlin (respondentes): Disputationes Tres, De Monetae Mutatione, Quoad Solutionem, <Altdorf> [E Typographia Balthasaris Scherffii] 1622, verfügbar unter URL http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00030569/images/ (gesehen 2011-03-18)
[4] z.B.:
Geoffroy de La Tour Landry (trans. Marquart <von Stein> [=Marquard
vom Stein]: Zuchtmeister der Weiber und
Jungfrawen, auß biblischen und weltlichen Historien [= Livre pour l'enseignement de ses filles <deutsch>] Franckfurt
am Mayn [Martin Lechler] 1572, verfügbar unter URL http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00037640/images/
(gesehen 2011-03-18)
[5]
Zahlreiche Ausgaben. Auch
elektronisch leicht verfügbar.
[6]
für Links zu elektronischen
Versonen des Druckes Haganoae [ex officina Seceriana] 1533 siehe http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/W4RF/YaBB.pl?num=1285328167
(gesehen 2011-03-18)
[7]
= Ioannes Versorius.
[8]
Ioannes Versorius: Liber yconomicorum
Arestotelis<!> tractans de gubernatione rerum domesticarum cum commento
magistri Johannis versoris legentium aspectibus multum amenus, Köln
[Quente4l] ca. 1495, verfügbar via URL http://diglib.hab.de/inkunabeln/149-3-quod-2f-2/start.htm
(gesehen 2011-03-18)
[9]
Ioannes Versorius: Liber yconomicorum
Arestotelis<!> tractans de gubernatione rerum domesticarum cum commento
magistri Johannis versoris legentium aspectibus multum amenus, Köln
[Quentel] ca. 1495, f. <a i> rbs.
[10]
Antonio de Guevara: Zwey schöne
Tractätlein : Deren das eine: De Molestiis Aulae Et Ruris Laude, Darinnen die
müheseligkeit des Hofs, und Glückseligkeit des Landlebens angezeiget, und mit
denckwürdigen Exempeln erwiesen wird, Wie viel herrlicher, nützlicher,
sicherer, und ersprießlicher das Privatleben vor dem Hofleben sey, Und was für
Gefährligkeiten dieses vor jenem habe , Anfangs durch Herrn Antonium de
Guevarra, Bischofn zu Mondonedo, und weyland Keyser Caroli V. Historico, in
Hispanischer Sprach beschrieben. Das andere, De Conviviis et Copotationibus,
von Gatereyen und Zutrincken, ... Durch Aegidium Albertinum, Fürstl. Durchl. in
Bäyern Hofraths Secretarium verdeutscht, Leipzig [Bey Henning Grossen] 1621,
verfügbar unter URL http://diglib.hab.de/drucke/xb-2486-1s/start.htm
(gesehen 2011-03-18).
[11]
Theodorus Cornhertius: Emblemata
Moralia, Et Oeconomica, De Rerum Usu Et Abusu, Arnhemi [Jansonius] 1609,
verfügbar unter URL http://diglib.hab.de/drucke/258-2-hist-2s/start.htm
(gesehen 2011-03-18).
[12] Joseph
S. Freedman: Philosophical Writings on The family in Sixteenth- And Seventeenth
Century Europe in: "Journal of Family History" 27 (2002),
pp. 292-342.
[13] Augustinus
Niphus (=Agostino Nifo): De Divitiis Libellus Ad Iacobum Filium, in: Augustinus Niphus: "Prima Pars Opusculorum
Magni Augustini Niphi Medices philosophi Suessani : in quinque libros divisa,
secundum varietatem tractandorum, ab ipsomet nuper in lucem edita",
Venetiis [Scotus] 1535, pp. 34-67, zugänglich via URL http://www.uni-mannheim.de/mateo/itali/nifo2/jpg/s034.html bzw. http://www.uni-mannheim.de/mateo/itali/autoren/nifo_itali.html (gesehen 2011-03-18).
[14] Antoine
de Montchrestien (ed. Th.
Funck-Brentano): Traicté de l'œconomie
politique, Paris [Plon] 1889, zugänglich unter URL http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k106383n (gesehen 2011-03-18).
"
No comments:
Post a Comment