2015-08-12

Centuria I, Experimentum 38: Orte und Jahre: Montaigne 1588

Ausschnitte aus hck: "Philosophie der Renaissance": Teil 9




Hier nun der neunte Teil der Ausschnitte aus meinem 2014 erschienenen Einführungsband zur Philosophie der Renaissance. Zum Kontext und für Auszüge aus dem Kapitel "München 2013" siehe hier. Auszüge aus dem vorigen Kapitel ("Ingolstadt 1577") gibt's hier  .


Hier die Ausschnitte:

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Montaigne 1588


            Montaigne, das ist der Ort, von dem Michel de Montaigne im Jahr 1588 den größten Teil des Jahres abwesend ist.[1] 1588, das ist das das Jahr, in dem, während sich Michel de Montaigne in Paris befindet, die erste dreibändige und die letzte zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Ausgabe seiner Essais[2] erscheint.[3] Dies ist nicht die Ausgabe, die den Ausführungen hier maßgeblich zugrundeliegt.[4]
            Aussagen und Kontrapost zu selbigen Aussagen, Teilaufhebung durch Abweichung mehr denn durch Widerspruch: Dies scheint mir Montaignes eignem Vortrag in seinen Essais angemessen.
            Montaignes Texte sind nicht nur mehrdeutig, für unterschiedliche Leser unterschiedliches bietend geschrieben[5] - das sind sie auch -, sondern - vor allem -, was feste und mehr als einen Absatz übergreifende Aussagen der Texte betrifft so unterdeterminiert, dass durch unterschiedliche Leser sehr unterschiedliches darin gefunden wurde und wird. Wo der Text nicht Interpretationen heftigen Widerstand bietet ist es leicht zu vielfältigen, teils einander, aber durchweg nicht dem Text widersprechenden Interpretationen zu kommen. Und nachdem Montaignes Texte Leser und Interpretationen reichlich über die Jahrhunderte angezogen haben - ist die Fülle an Interpretationen deren Richtigkeit und/oder Falschheit kaum allgemein plausibel gezeigt werden kann immens. Zeitschriften[6] und mindestens eine dedizierte Buchreihe,[7] tausende von Monographien[8] und Aufsätzen:[9] Sich Montaigne über die Sekundärliteratur zu nähern, scheint für Sterbliche entweder willkürlich (der Auswahl der Sekundärliteratur wegen) oder unmöglich (der Fülle und des Umfangs selbiger Literatur wegen).[10]
            Auch auf einen Näherungsversuch über die Biographie, den Autor, verzichte ich, da sie mir sinnlos erscheint bei jemandem wie Montaigne, der auf den ersten Blick zwar außergewöhnlich viel über sich selbst zu berichten scheint - bis hin zum Zustand seiner Zähne und deren Reinigung,[11] doch nichts was einerseits ein Inneres seiner Person beträfe, und andererseits verlässlich wäre (war er überzeugter Katholik? glaubte er an die Ewigkeit der Welt oder an eine Schöpfung aus dem Nichts oder war es ihm ziemlich egal? hatte er emotionale Beziehungen zu seinen Kindern? …).
            Das einzige woran wir uns verlässlich halten können, sind seine Schriften, insbesondere seine Essais, und dies wohl auch nur insofern wir versuchen sie als Texte - und nicht etwa als Behälter der Überzeugungen und Absichten eines Autors - wahrzunehmen. Dies versucht dieses Kapitel, beispielhaft zwei der Essais vorstellend.



            Zunächst: Buch I, Kapitel 28: Über die Freundschaft.[12]
            Einen von ihm beauftragten Maler beobachtend sei ihm die Lust gekommen dessen Arbeit zu folgen. Der Maler habe den besten Platz in der Mitte jeder Wand gewählt, um dort ein vollständig ausgearbeitetes Bild unterzubringen, die verbleibende Leere aber mit Grotesken angefüllt.[13]


[1]           Siehe Alexandre Micha: Chronologie in: Michel de Montaigne: "Essais : Livre I", Paris [Garnier-Flammarion] 1969, pp. <5>-10, hier p. 8s.
[2]           Ich zitiere die Essais hier nach der Ausgabe Alexandre Micha (Paris [Garnier-Flammarion] 1969, 3 Bände), die die Textstände der Ausgaben von 1580, 1588, und 1595 (der ersten posthumen Ausgabe durch Marie de Gournay) reflektiert. Den Stand des berühmten "Exemplaire de Bordeaux" (Montaignes Handexemplar der 1588er Ausgabe mit handschriftlichen Ergänzungen) als Grundlage eines "Textstandes letzter Hand" zu nehmen scheint mir problematisch, da die handschriftliche Annotierung dieses Exemplars m.E. so ist, dass sie nicht immer mit hinreichender Sicherheit in einen linearen gedruckten Text integriert werden könnte - abgesehen von der nicht ganz einfachen Entscheidung was genau zu integrieren wäre. (Man sehe z.B. folgende Seite aus dem Essai zur Freundschaft, der im Zentrum dieses Kapitels stehen wird: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a4/Montaigne_Essais_Manuscript.jpg [gesehen 2012-08-10]). Eine leicht zugängliche Version die versucht diesen Textstand zu integrieren und links auf digitalisierte Seiten des "Exemplaire de Bordeaux" gibt ist zugänglich unter/via http://www.lib.uchicago.edu/efts/ARTFL/projects/montaigne/ [gesehen 2012-08-10]. U.a. hierzu siehe auch Marie-Luce Demonet: Reusability of Literary Corpora: the "Montaigne at work" Project (Juni 2011), URL http://dh2011abstracts.stanford.edu/xtf/view?docId=tei/ab-293.xml;query=demonet;brand=default bzw. http://dh2011abstracts.stanford.edu/xtf/view?docId=tei/ab-293.xml&doc.view=print;chunk.id=0 [gesehen 2012-08-10]. Zu den "Schichten" von Montaignes Essais m.E. lesens- und bedenkenswert: Hans Stillet: Von der Lust, auf dieser Erde zu leben : Wanderungen durch Montaignes Welten | Ein Kommentarband anderer Art, Berlin [Eichborn] 2008, pp. 216-224.
Wer auf eine deutsche Übersetzung von Montaignes Essais angewiesen ist: möge - schon ihrer Vollständigkeit wegen - die durch Heinz Stillet verwenden: Michel de Montaigne (trans. Heinz Stillet): Essais, Frankfurt am Main [Eichborn Verlag] 1998 (oder eine neuere Ausgabe von Stillets Übersetzung). So sehr ich diese Übersetzung schätze habe ich sie doch nicht zur Grundlage meiner Ausführungen in diesem Kapitel hier gemacht, da ich - auf Kosten sprachlicher Flüssigkeit im Deutschen - versuche näher an Montaignes Sprache und insbesondere Satzbau zu bleiben.
[3]           Alexandre Micha: Chronologie in: Michel de Montaigne: "Essais : Livre I", Paris [Garnier-Flammarion] 1969, pp. <5>-10, hier p. 8s.
[4]           Zur verwendeten modernen Ausgabe und ihrer Textbasis siehe die vorvorige Fußnote. Zum Verhältnis der 1595er Ausgabe der Essais zu einem Exemplar des 1588er Druckes mit umfangreichen handschriftlichen Eingriffen und Ergänzungen (primär von Montaigne selbst), dem sogenannten "Exemplaire de Bordeaux" siehe Claude Blum: L'éditrice des Essais in: Jean-Claude Arnould (et al., edd.): Marie de Gournay: "Œuvres complètes : Tome I", Paris [Honoré Champion] 2002, pp. 27-43, hier pp. 27-32.
[5]           Wie z.B. Leon Battista Albertis De familia (vgl. Kapitel Florenz 1434).
[6]           "Bibliographie annotée des ouvrages relatifs à Montaigne", "Bulletin de la Société des Amis de Montaigne", "Bulletin de la Société Internationale des Amis de Montaigne", "Montaigne Studies".
[7]           "Etudes montaignistes"
[8]           Allein der Bayerische Bibliotheksverbund (BVB) meldet am 2012-08-13 4275 monographische Titel als Ergebnisse der Suche nach "Montaigne".
[9]           Iter hat auf Stand 2012-08-13 4090 Treffer.
[10]          Ich gehe davon aus, dass alles was in diesem Kapitel gesagt wird bereits vorher von jemandem anderen gesagt worden ist, erhebe Anspruch auf inhaltliche Originalität für kein Wort, kein Komma, keinen Satz. An den wenigen Stellen wo ich mir bewusst Bezug auf Sekundärliteratur nehme habe ich dies selbstverständlich nachgewiesen.
[11]          Essais III.13: De l'expérience (Michel de Montaigne (ed. Alexandre Micha): Essais : Livre 3,  Paris [Garnier-Flammarion] 1969, p. 313.
[12]          Essais I.28: De l'Amitié (Michel de Montaigne (ed. Alexandre Micha): Essais : Livre I,  Paris [Garnier-Flammarion] 1969, pp. 231-242, im folgenden zitiert als "E I.28"
[13]          E I.28,  p. 231.
 







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((Ob Montaignes zeitgenössische Leserinnen und Leser wohl erstaunt waren ob dieser impliziten Aussage man könne - da er, Montaigne, es getan habe - sich täuschen darüber oder mindestens sich unsicher sein darüber, ob ein bestimmter Geschlechtsakt besonders guter Sex gewesen sei? Ob sie dies auch in Analogie zu einer Behauptung gesehen haben, man könne sich darüber täuschen ob man Schmerzen habe oder nicht? Ob dies bei einigen oder allen von ihnen zu Zweifeln daran geführt hat, Montaignes Rat zu zweifelnder Distanz in diesem Essai sei etwas, das man mit eigener zweifelnder Distanz betrachten sollte? Gerade in ihrer zeitlichen wie kulturellen Distanz zu unserer Welt zwingen Montaignes Essais bisweilen auch heute zu eigener Auseinandersetzung - auch und gerade wo wir über die zeitgenössische wenig oder nichts wissen.))

            Hinkend endet dieser Essay über die Hinkenden nicht mit Hinkenden, sondern mit unklaren Wirkungen des Pferdereitens (Tasso und Sueton), an beiden Füßen tragbaren antiken Schuhen, der Schwierigkeit für einen König einem Kyniker ein angemessenes Geldgeschenk zu geben, Versen, der Doppelseitigkeit jeder Medaille, Karneades' Übertreffen des Herkules dadurch, dass er den Menschen Zustimmung ("consentement"), Meinung und Kühnheit des Urteils ausriss, einer Äsop-Anekdote.[1] So sei es in der Schule der Philosophie zugegangen: die Wildheit derer die dem menschlichen Geist Fähigkeit zu allem zuschrieben habe bei den andren ihnen zum Trotz zu der Meinung geführt, der menschliche Geist sei zu nichts in der Lage - die einen so extrem in der Position der Ignoranz wie die andren in der der Wissenschaft.[2]

Afin qu'on ne puisse nier qu l'homme ne soit immoderé par tout, et qu'il n'a point d'arrest que celuy de la necessité, et impuissance d'aller outre.[3]
So dass man nicht leugnen kann, dass der Mensch durchweg maßlos sei, und keinen Ruhepunkt hat, als den der Notwendigkeit und der Unfähigkeit weiter zu gehen.
So dass passend am Ende des Essais über die Hinkenden der unfreiwillige Stillstand steht.




            Zum Kontrast einer von Francis Bacons Essayes,[4] auch er zum Thema Freundschaft.[5] Ausgangspunkt ist das Diktum[6] wer auch immer an Einsamkeit Freude habe, sei entweder ein wildes Tier oder ein Gott.[7] Abneigung gegen Gesellschaft hat - so Bacon - etwas vom wilden Tier, doch selten oder nie etwas Göttliches; gerade in großen Gemeinschaften sei man - so Bacon - sehr einsam, am schlimmsten aber wenn man ohne wahre Freunde ist.[8] Zu einem Freund von seinen Sorgen zu sprechen öffne das Herz, so wie unterschiedliche Medikamente unterschiedliche Körperteile öffneten, so gefährliche Erstickungskrankheiten verhindernd.[9]
            Große Könige und Monarchen seien bereit Freundschaft um hohen Preis (nämlich Risiko für ihre eigene Sicherheit und Größe) zu erwerben.[10] Ausführliche Darlegungen zu solchen Favoriten politisch Großer folgen, mit antiken Beispielen und solchen aus neuerer Zeit.[11]
            Dreierlei Früchte hat Freundschaft: Trost (Teilen von Vergnügen und Trauer),[12] Rat,[13] Hilfe.[14]

            Wer Bacons Essayes liest, wird belehrt. Was bei der Lektüre von Montaignes Essais geschieht, ist nicht so einfach zu fassen.




            Montaigne hat mäandrierende, sich ohne klare durchgehende Argumentationsrichtung und/oder Einteilung bewegende Texte die sich mit mehr (und einigem andren) als dem was gemäß ihrer Überschrift zu erwarten wäre beschäftigen nicht erfunden. Man kann mindestens einige von Plutarchs Moralia so lesen. Und Erasmus' Adagium II 1,1 Festina Lente/Eile mit Weile[15] ist ohne Zweifel ebenfalls ein Text mit solchen Eigenschaften.
            Montaignes Essais erfordern (mehr noch als der erwähnte des Erasmus') denkenden, und gelegentlich rückwärtsblätternden, mehrmals lesenden Versuch des Nachvollzugs; die Wirkungen die sie haben haben sie in ihren Leserinnen und Lesern, und von Leserin zu Leserin, von Leser zu Leser häufig im Detail recht unterschiedliche Wirkungen, und doch stets die selbe Wirkung: die Leserin, den Leser zum Selbstnachdenken zu bringen: es sind - hierin (und wohl nur hierin) Descartes' Meditationes[16] nicht unähnliche - meditative Texte, die meditativ nachvollzogen zu Erkenntnissen führen können, die ohne sie nicht - (vermutlich) nicht statt gehabt hätten, Texte die ich nur zur Vermeidung von Anachronismen nicht als katalytische Texte bezeichne, Texte die ich nur um Montaigne keine Absichten zuzuschreiben[17] nicht als instrumentale bezeichne.
            Die Gefahr bei ihrer Interpretation solche und andere Fehler zu begehen ist groß, doch lohnt es sich zu versuchen solche Fehler zu vermeiden, und die Essais als kunstvolle Texte des 16. Jahrhunderts zu sehen - wie auch Grotesken mehr und anderes sind als bloß Rahmen und Dekoration.



[1]           E III.11, p. 246s.
[2]           E III.11, p. 247.
[3]           E III.11, p. 247: Die Schlussworte dieses Essais.
[4]           Erstauflage 1597 (2 Jahre nach Marie de Gournays Ausgabe der Essais Montaignes), vermehrte Auflagen 1612 und 1625 (Michael J. Hawkins: Select Bibliography, in: Francis Bacon (ed. Michael J. Hawkins): "Essays", London [Dent] 1985, pp. xxi-xxiv, hier p. xxi.
[5]           Of Friendship: Francis Bacon (ed. Michael J. Hawkins): Essays, London [Dent] 1985, pp. 80-86; Text indirekt nach der Ausgabe von 1625 (cf. op. cit., p. xxiv); im folgenden zitiert als "Bacon: Friendship".
[6]           Das auf die Politikschrift des nicht erwähnten Aristoteles (Pol. I, 1253a27-29) zurückgeht, wo es aber abweichend steht: Wer der Gemeinschaft nicht fähig oder nicht bedürftig sei, der sei kein Teil der Polis, sonder entweder ein Vieh oder ein Gott.
[7]           Bacon: Friendship, p. 80.
[8]           Bacon: Friendship, p. 80.
[9]           Bacon: Friendship, p. 80s.
[10]          Bacon: Friendship, p. 81.
[11]          Bacon: Friendship, pp. 81-83.
[12]          Bacon: Friendship, p. 83.
[13]          Bacon: Friendship, pp. 83-85, mit näheren Ausführungen (u.a.: "Reading good books of morality is a little flat and dead." [p. 84]).
[14]          Bacon: Friendship, p. 86s.
[15]          Zweisprachig zugänglich in: Desiderius Erasmus Roterodamus (ed. & trans. Theresia Payr): Dialogus cui titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere : Der Ciceronianer oder der beste Stil, ein Dialog | Adagiorum chiliades (Adagia Selecta) : Mehrere tausend Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten (Auswahl), Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1972, pp. 464-513.
[16]          Vor Descartes findet sich der Titel "Meditationes" primär bei Frömmigkeitsliteratur.
[17]          Intentio auctoris ist etwas was als unbeweisbar nicht zur Interpretation von Texten verwendet werden sollte.



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