Ausschnitte aus hck: "Philosophie der Renaissance": Teil 9
Hier nun der neunte Teil der Ausschnitte aus meinem 2014 erschienenen Einführungsband
zur Philosophie der Renaissance. Zum Kontext und für Auszüge aus dem
Kapitel "München 2013" siehe hier. Auszüge aus dem
vorigen Kapitel ("Ingolstadt 1577") gibt's hier .
Hier die Ausschnitte:
"
Montaigne 1588
Montaigne, das ist der Ort, von dem
Michel de Montaigne im Jahr 1588 den größten Teil des Jahres abwesend ist.[1]
1588, das ist das das Jahr, in dem, während sich Michel de Montaigne in Paris
befindet, die erste dreibändige und die letzte zu seinen Lebzeiten
veröffentlichte Ausgabe seiner Essais[2] erscheint.[3]
Dies ist nicht die Ausgabe, die den Ausführungen hier maßgeblich zugrundeliegt.[4]
Aussagen und Kontrapost zu selbigen
Aussagen, Teilaufhebung durch Abweichung mehr denn durch Widerspruch: Dies
scheint mir Montaignes eignem Vortrag in seinen Essais angemessen.
Montaignes Texte sind nicht nur
mehrdeutig, für unterschiedliche
Leser unterschiedliches bietend geschrieben[5]
- das sind sie auch -, sondern - vor
allem -, was feste und mehr als einen Absatz übergreifende Aussagen der Texte
betrifft so unterdeterminiert, dass durch
unterschiedliche Leser sehr unterschiedliches darin gefunden wurde und wird. Wo
der Text nicht Interpretationen heftigen Widerstand bietet ist es leicht zu
vielfältigen, teils einander, aber durchweg nicht dem Text widersprechenden
Interpretationen zu kommen. Und nachdem Montaignes Texte Leser und Interpretationen
reichlich über die Jahrhunderte angezogen haben - ist die Fülle an
Interpretationen deren Richtigkeit und/oder Falschheit kaum allgemein plausibel
gezeigt werden kann immens. Zeitschriften[6]
und mindestens eine dedizierte Buchreihe,[7]
tausende von Monographien[8]
und Aufsätzen:[9]
Sich Montaigne über die Sekundärliteratur zu nähern, scheint für Sterbliche
entweder willkürlich (der Auswahl der Sekundärliteratur wegen) oder unmöglich
(der Fülle und des Umfangs selbiger Literatur wegen).[10]
Auch auf einen Näherungsversuch über
die Biographie, den Autor, verzichte ich, da sie mir sinnlos erscheint bei
jemandem wie Montaigne, der auf den ersten Blick zwar außergewöhnlich viel über
sich selbst zu berichten scheint - bis hin zum Zustand seiner Zähne und deren
Reinigung,[11]
doch nichts was einerseits ein Inneres seiner Person beträfe, und andererseits
verlässlich wäre (war er überzeugter Katholik? glaubte er an die Ewigkeit der
Welt oder an eine Schöpfung aus dem Nichts oder war es ihm ziemlich egal? hatte
er emotionale Beziehungen zu seinen Kindern? …).
Das einzige woran wir uns
verlässlich halten können, sind seine Schriften, insbesondere seine Essais, und dies wohl auch nur insofern
wir versuchen sie als Texte - und nicht etwa als Behälter der Überzeugungen und
Absichten eines Autors - wahrzunehmen. Dies versucht dieses Kapitel,
beispielhaft zwei der Essais vorstellend.
Zunächst: Buch I, Kapitel 28: Über
die Freundschaft.[12]
Einen von ihm beauftragten Maler
beobachtend sei ihm die Lust gekommen dessen Arbeit zu folgen. Der Maler habe
den besten Platz in der Mitte jeder Wand gewählt, um dort ein vollständig
ausgearbeitetes Bild unterzubringen, die verbleibende Leere aber mit Grotesken
angefüllt.[13]
[1] Siehe
Alexandre Micha: Chronologie in: Michel de Montaigne: "Essais : Livre
I", Paris [Garnier-Flammarion] 1969, pp. <5>-10, hier p. 8s.
[2]
Ich zitiere die Essais hier nach der Ausgabe Alexandre Micha (Paris [Garnier-Flammarion] 1969,
3 Bände), die die Textstände der Ausgaben von 1580, 1588, und 1595 (der ersten
posthumen Ausgabe durch Marie de Gournay) reflektiert. Den Stand des berühmten
"Exemplaire de Bordeaux" (Montaignes Handexemplar der 1588er Ausgabe
mit handschriftlichen Ergänzungen) als Grundlage eines "Textstandes
letzter Hand" zu nehmen scheint mir problematisch, da die handschriftliche
Annotierung dieses Exemplars m.E. so ist, dass sie nicht immer mit
hinreichender Sicherheit in einen linearen gedruckten Text integriert werden
könnte - abgesehen von der nicht ganz einfachen Entscheidung was genau zu
integrieren wäre. (Man sehe z.B. folgende Seite aus dem Essai zur Freundschaft,
der im Zentrum dieses Kapitels stehen wird: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a4/Montaigne_Essais_Manuscript.jpg
[gesehen 2012-08-10]). Eine leicht zugängliche Version die versucht diesen
Textstand zu integrieren und links auf digitalisierte Seiten des
"Exemplaire de Bordeaux" gibt ist zugänglich unter/via http://www.lib.uchicago.edu/efts/ARTFL/projects/montaigne/
[gesehen 2012-08-10]. U.a.
hierzu siehe auch Marie-Luce Demonet:
Reusability of Literary Corpora: the
"Montaigne at work" Project (Juni 2011), URL http://dh2011abstracts.stanford.edu/xtf/view?docId=tei/ab-293.xml;query=demonet;brand=default bzw. http://dh2011abstracts.stanford.edu/xtf/view?docId=tei/ab-293.xml&doc.view=print;chunk.id=0 [gesehen 2012-08-10]. Zu den
"Schichten" von Montaignes Essais
m.E. lesens- und bedenkenswert: Hans Stillet:
Von der Lust, auf dieser Erde zu leben :
Wanderungen durch Montaignes Welten | Ein Kommentarband anderer Art, Berlin
[Eichborn] 2008, pp. 216-224.
Wer auf eine deutsche Übersetzung von Montaignes Essais angewiesen ist: möge - schon ihrer Vollständigkeit wegen - die durch Heinz Stillet verwenden: Michel de Montaigne (trans. Heinz Stillet): Essais, Frankfurt am Main [Eichborn Verlag] 1998 (oder eine neuere Ausgabe von Stillets Übersetzung). So sehr ich diese Übersetzung schätze habe ich sie doch nicht zur Grundlage meiner Ausführungen in diesem Kapitel hier gemacht, da ich - auf Kosten sprachlicher Flüssigkeit im Deutschen - versuche näher an Montaignes Sprache und insbesondere Satzbau zu bleiben.
Wer auf eine deutsche Übersetzung von Montaignes Essais angewiesen ist: möge - schon ihrer Vollständigkeit wegen - die durch Heinz Stillet verwenden: Michel de Montaigne (trans. Heinz Stillet): Essais, Frankfurt am Main [Eichborn Verlag] 1998 (oder eine neuere Ausgabe von Stillets Übersetzung). So sehr ich diese Übersetzung schätze habe ich sie doch nicht zur Grundlage meiner Ausführungen in diesem Kapitel hier gemacht, da ich - auf Kosten sprachlicher Flüssigkeit im Deutschen - versuche näher an Montaignes Sprache und insbesondere Satzbau zu bleiben.
[3] Alexandre
Micha: Chronologie in: Michel de Montaigne: "Essais : Livre I", Paris [Garnier-Flammarion]
1969, pp. <5>-10, hier p. 8s.
[4]
Zur verwendeten modernen Ausgabe
und ihrer Textbasis siehe die vorvorige Fußnote. Zum Verhältnis der 1595er
Ausgabe der Essais zu einem Exemplar
des 1588er Druckes mit umfangreichen handschriftlichen Eingriffen und
Ergänzungen (primär von Montaigne selbst), dem sogenannten "Exemplaire de
Bordeaux" siehe Claude Blum: L'éditrice des Essais in:
Jean-Claude Arnould (et al., edd.): Marie de Gournay: "Œuvres
complètes : Tome I", Paris [Honoré Champion] 2002, pp. 27-43, hier pp.
27-32.
[5] Wie
z.B. Leon Battista Albertis De familia (vgl. Kapitel Florenz 1434).
[6] "Bibliographie
annotée des ouvrages relatifs à Montaigne", "Bulletin de la Société
des Amis de Montaigne", "Bulletin de la Société Internationale des
Amis de Montaigne", "Montaigne Studies".
[7]
"Etudes montaignistes"
[8]
Allein der Bayerische
Bibliotheksverbund (BVB) meldet am 2012-08-13 4275 monographische Titel als
Ergebnisse der Suche nach "Montaigne".
[9]
Iter hat auf Stand 2012-08-13 4090 Treffer.
[10]
Ich gehe davon aus, dass alles
was in diesem Kapitel gesagt wird bereits vorher von jemandem anderen gesagt
worden ist, erhebe Anspruch auf inhaltliche Originalität für kein Wort, kein
Komma, keinen Satz. An den wenigen Stellen wo ich mir bewusst Bezug auf
Sekundärliteratur nehme habe ich dies selbstverständlich nachgewiesen.
[11] Essais III.13: De l'expérience (Michel
de Montaigne (ed. Alexandre Micha): Essais : Livre 3, Paris
[Garnier-Flammarion] 1969, p. 313.
[12] Essais I.28: De l'Amitié (Michel de Montaigne (ed. Alexandre Micha): Essais : Livre I, Paris
[Garnier-Flammarion] 1969, pp. 231-242, im folgenden zitiert als "E I.28"
<...>
((Ob Montaignes
zeitgenössische Leserinnen und Leser wohl erstaunt waren ob dieser impliziten
Aussage man könne - da er, Montaigne, es getan habe - sich täuschen darüber
oder mindestens sich unsicher sein darüber, ob ein bestimmter Geschlechtsakt
besonders guter Sex gewesen sei? Ob sie dies auch in Analogie zu einer
Behauptung gesehen haben, man könne sich darüber täuschen ob man Schmerzen habe
oder nicht? Ob dies bei einigen oder allen von ihnen zu Zweifeln daran geführt
hat, Montaignes Rat zu zweifelnder Distanz in diesem Essai sei etwas, das man
mit eigener zweifelnder Distanz betrachten sollte? Gerade in ihrer zeitlichen
wie kulturellen Distanz zu unserer Welt zwingen Montaignes Essais bisweilen
auch heute zu eigener Auseinandersetzung - auch und gerade wo wir über die
zeitgenössische wenig oder nichts wissen.))
Hinkend endet dieser Essay über die Hinkenden
nicht mit Hinkenden, sondern mit unklaren Wirkungen des Pferdereitens (Tasso
und Sueton), an beiden Füßen tragbaren antiken Schuhen, der Schwierigkeit für
einen König einem Kyniker ein angemessenes Geldgeschenk zu geben, Versen, der
Doppelseitigkeit jeder Medaille, Karneades' Übertreffen des Herkules dadurch,
dass er den Menschen Zustimmung ("consentement"),
Meinung und Kühnheit des Urteils ausriss, einer Äsop-Anekdote.[1]
So sei es in der Schule der Philosophie zugegangen: die Wildheit derer die dem menschlichen Geist Fähigkeit zu allem
zuschrieben habe bei den andren
ihnen zum Trotz zu der Meinung geführt, der menschliche Geist sei zu nichts in
der Lage - die einen so extrem in der Position der Ignoranz wie die andren in der der Wissenschaft.[2]
Afin qu'on ne puisse nier qu l'homme ne soit immoderé par tout, et qu'il n'a point d'arrest que celuy de la necessité, et impuissance d'aller outre.[3]So dass man nicht leugnen kann, dass der Mensch durchweg maßlos sei, und keinen Ruhepunkt hat, als den der Notwendigkeit und der Unfähigkeit weiter zu gehen.
So dass passend am Ende des Essais über die Hinkenden der
unfreiwillige Stillstand steht.
Zum Kontrast einer
von Francis Bacons Essayes,[4]
auch er zum Thema Freundschaft.[5]
Ausgangspunkt ist das Diktum[6]
wer auch immer an Einsamkeit Freude habe, sei entweder ein wildes Tier oder ein
Gott.[7]
Abneigung gegen Gesellschaft hat - so Bacon - etwas vom wilden Tier, doch
selten oder nie etwas Göttliches; gerade in großen Gemeinschaften sei man - so
Bacon - sehr einsam, am schlimmsten aber wenn man ohne wahre Freunde ist.[8]
Zu einem Freund von seinen Sorgen zu sprechen öffne das Herz, so wie
unterschiedliche Medikamente unterschiedliche Körperteile öffneten, so
gefährliche Erstickungskrankheiten verhindernd.[9]
Große Könige und
Monarchen seien bereit Freundschaft um hohen Preis (nämlich Risiko für ihre
eigene Sicherheit und Größe) zu erwerben.[10]
Ausführliche Darlegungen zu solchen Favoriten politisch Großer folgen, mit
antiken Beispielen und solchen aus neuerer Zeit.[11]
Dreierlei Früchte
hat Freundschaft: Trost (Teilen von Vergnügen und Trauer),[12]
Rat,[13]
Hilfe.[14]
Wer Bacons Essayes liest, wird belehrt. Was bei der
Lektüre von Montaignes Essais
geschieht, ist nicht so einfach zu fassen.
Montaigne hat
mäandrierende, sich ohne klare durchgehende Argumentationsrichtung und/oder
Einteilung bewegende Texte die sich mit mehr (und einigem andren) als dem was
gemäß ihrer Überschrift zu erwarten wäre beschäftigen nicht erfunden. Man kann
mindestens einige von Plutarchs Moralia
so lesen. Und Erasmus' Adagium II 1,1
Festina Lente/Eile mit Weile[15]
ist ohne Zweifel ebenfalls ein Text mit solchen Eigenschaften.
Montaignes Essais erfordern (mehr noch als der
erwähnte des Erasmus') denkenden, und gelegentlich rückwärtsblätternden,
mehrmals lesenden Versuch des Nachvollzugs; die Wirkungen die sie haben haben
sie in ihren Leserinnen und Lesern, und von Leserin zu Leserin, von Leser zu
Leser häufig im Detail recht unterschiedliche Wirkungen, und doch stets die
selbe Wirkung: die Leserin, den Leser zum Selbstnachdenken zu bringen: es sind
- hierin (und wohl nur hierin) Descartes' Meditationes[16] nicht
unähnliche - meditative Texte, die meditativ nachvollzogen zu Erkenntnissen
führen können, die ohne sie nicht - (vermutlich) nicht statt gehabt hätten,
Texte die ich nur zur Vermeidung von Anachronismen nicht als katalytische Texte
bezeichne, Texte die ich nur um Montaigne keine Absichten zuzuschreiben[17]
nicht als instrumentale bezeichne.
Die Gefahr bei
ihrer Interpretation solche und andere Fehler zu begehen ist groß, doch lohnt
es sich zu versuchen solche Fehler zu vermeiden, und die Essais als kunstvolle Texte des 16. Jahrhunderts zu sehen - wie
auch Grotesken mehr und anderes sind als bloß Rahmen und Dekoration.
[1] E
III.11, p. 246s.
[2] E
III.11, p. 247.
[3]
E III.11, p. 247: Die Schlussworte
dieses Essais.
[4]
Erstauflage 1597 (2 Jahre nach
Marie de Gournays Ausgabe der Essais Montaignes), vermehrte Auflagen 1612 und
1625 (Michael J. Hawkins: Select Bibliography, in: Francis Bacon (ed. Michael J. Hawkins):
"Essays", London [Dent] 1985, pp. xxi-xxiv, hier p. xxi.
[5] Of Friendship: Francis Bacon (ed. Michael J. Hawkins): Essays, London [Dent] 1985, pp. 80-86; Text indirekt nach der
Ausgabe von 1625 (cf. op. cit., p. xxiv); im folgenden zitiert als "Bacon: Friendship".
[6]
Das auf die Politikschrift des
nicht erwähnten Aristoteles (Pol. I, 1253a27-29) zurückgeht, wo es aber
abweichend steht: Wer der Gemeinschaft nicht fähig oder nicht bedürftig sei,
der sei kein Teil der Polis, sonder entweder ein Vieh oder ein Gott.
[7] Bacon:
Friendship, p. 80.
[8] Bacon:
Friendship, p. 80.
[9] Bacon:
Friendship, p. 80s.
[10] Bacon:
Friendship, p. 81.
[11] Bacon:
Friendship, pp. 81-83.
[12] Bacon:
Friendship, p. 83.
[13] Bacon:
Friendship, pp. 83-85, mit näheren Ausführungen (u.a.: "Reading
good books of morality is a little flat and dead." [p. 84]).
[14]
Bacon: Friendship, p. 86s.
[15]
Zweisprachig zugänglich in:
Desiderius Erasmus Roterodamus (ed.
& trans. Theresia Payr): Dialogus cui titulus Ciceronianus sive de
optimo dicendi genere : Der Ciceronianer oder der beste Stil, ein Dialog |
Adagiorum chiliades (Adagia Selecta) : Mehrere tausend Sprichwörter und
sprichwörtliche Redensarten (Auswahl), Darmstadt [Wissenschaftliche
Buchgesellschaft] 1972, pp. 464-513.
[16]
Vor Descartes findet sich der
Titel "Meditationes" primär bei Frömmigkeitsliteratur.
[17]
Intentio auctoris ist etwas was als unbeweisbar nicht zur
Interpretation von Texten verwendet werden sollte.
"
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