Ausschnitte aus hck: "Philosophie der Renaissance": Teil 11
Hier nun der
elfte Teil der Ausschnitte aus meinem 2014 erschienenen Einführungsband
zur Philosophie der Renaissance.
Eine
überarbeitete Version hätte wohl gewichtig den von Isabelle Landry-Deron herausgegebenen Sammelband
La Chine des Ming et de Matteo Ricci
(1552-160) : Le premier dialogue des savoirs avec L'europe (Paris: Les éditions
du cerf / Institut Ricci 2013 | ISBN: 978-2-204-09617-1) zu berücksichtigen,
der mir zum Zeitpunkt der letzten inhaltlichen Veränderungen an diesem Kapitel
noch nicht zur Verfügung stand.
Zum Kontext
und für Auszüge aus dem in den Band einführenden Kapitel "München
2013" siehe hier. Auszüge aus dem
vorigen Kapitel ("Ciudad de Mexico 1599") gibt's hier .
Hier die Ausschnitte:
"
Peking 1601
Peking,[1]
das ist der Ort, 1601, das ist das Jahr einer von Matteo Ricci[2]
erreichten Epoché (im chronologischen Sinne): Dauerhafte Niederlassung des
Gelehrten in der Hauptstadt des Chinesischen Reiches.[3]
Der Weg dorthin war weit und lang:
Geboren am 6. Oktober 1552 in
Macerata (in den päpstlichen Territorien),[4]
verbrachte Ricci sieben Jahre dort als Schüler des örtlichen Jesuitenkollegs,
lernte lateinische und griechische Sprache und Literatur.[5]
1568 dann nach Rom, um Jura zu studieren;[6]
1571 dort Eintritt in den Jesuitenorden,[7]
und Studien im Collegio Romano.[8]
In jenen Jahren gibt es mehrere Jesuitisch/Portugiesische Missons- und
Kolonisierungsprojekte.[9]
1577 wird Ricci zusammen mit sieben anderen für die Indienmission ausgewählt,
reist im Mai nach Portugal, kommt im Juli in Lissabon an.[10]
Dann studiert er Theologie in Coimbra.[11]
Am 23. März 1578 dann der Aufbruch
zur fast ein halbes Jahr dauernden beschwerlichen Seereise nach Indien, Ankunft
in Goa am 13. September.[12]
Das Theologiestudium wird fortgesetzt.[13]
Ricci gehört schon dort und damals zu den wenigen Jesuiten die die Aufnahme von
Nicht-Europäern in ihren Orden befürworten.[14]
Vom 26. April bis 7. August reist er per Schiff nach Macao.[15]
Die Beziehungen der chinesischen Autoritäten und Bevölkerung zu den mit
Misstrauen betrachteten in Macao isolierten Einwohnern selbiger Niederlassung
sind nicht spannungsfrei.[16]
Ricci hat ein "chinakompatibles" Aussehen und lernt schnell gut genug
Chinesisch um sich mit Autoritäten ohne Dolmetscher verständigen zu können.[17]
Eine Delegation der Ricci angehört reist im Dezember 1582 aufs Festland, über
Xiangshan, Guanzhou nach Zhaoqing um eine Uhr als Geschenk zu übergeben, muss
aber nach kaum drei Monaten wieder nach Macao zurückkehren.[18]
1583 schreibt
Ricci an seinen Ordensgeneral Aquaviva, und bittet um die Übersendung einer
Weltkarte.[19]
Riccis chinesische Weltkarten[20]
(die erste wurde 1584 gedruckt kaum dass es Ricci möglich geworden war sich auf
dem chinesischen Festland niederzulassen,[21]
dann vergrößert und verbessert Nanking/Nanjing 1600,[22]
dann Peking 1602[23]
[ein sehr großer Erfolg: "tausende" bzw. "viele" und
"sehr viele" Exemplare werden davon gedruckt,[24]
ja das Werk wird im selben Jahr dortselbst raubgedruckt],[25]eine
erneut vergrößerte und verbesserte
Ausgabe folgt Peking 1603),[26]
diese Karten, die auch Texte enthalten, diese Weltkarten machen beachtlichen
Eindruck: schon Ortelius' Weltkarte (mit ihren Erläuterungen durch Ricci) hatte
1584 in Zhaoqin beträchtliches Interesse erfahren;[27]
gegen Ende des Jahres folgt dann Riccis erste eigene chinesische Weltkarte
dortselbst.[28]
Ein unautorisierter Nachdruck derselben verbessert 1598 Riccis Situation in
Nanjing.[29]
Die (vermutlich) erste der Pekinger Ausgaben der Karte erlaubt es dem
chinesischen Autoren des Vorworts Li Zhizao westliche und chinesische
Astronomie/Kosmologie zu verbinden.[30]
Der Ruhm seiner Weltkarten eilt Ricci voraus.[31]
Unter all seinen Werken ist sie zu seiner Zeit das meistgedruckte, selbst der
Kaiser wünscht ein Exemplar davon (und erhält eine Spezialversion auf einem
Lackschirm).[32]
Riccis Weg von
Macao zum Residenzort des Kaisers war länger als der vorige Absatz. Schon in
seiner Zeit in Macao hatte er Parallelen gezogen zwischen den chinesischen
Mandarinen, denen zeremoniell hohe Achtung entgegengebracht wird und die allein
ihrer Gelehrsamkeit wegen ihre Stellung erreicht haben, und dem römischen
Papst.[33]
1583 wird die erste jesuitische Dauerniederlassung in Inlandschina, in
Zhaoqing, erlaubt.[34]
Die Jesuiten präsentieren sich als Mönche aus dem Lande Buddhas und werden als
eine Sorte buddhistischer Mönche wahrgenommen.[35]
Michele Ruggieri/Luo Mingjian erreicht, dass der Mandarin Wang Pan den Druck
von 3000 Exemplaren des von Ruggieri erarbeiteten chinesischen Katechismus
unterstützt.[36]
Ölbilder, wissenschaftliche Instrumente, die erwähnte Weltkarte führen zu
zahlreichen interessierten chinesischen
Besuchern in Ruggieris und Riccis Niederlassung.[37] 1585 meldet Ricci, er habe sich äußerlich
völlig sinisiert,[38]
Sprachenmischung habe zu Verlust der Fähigkeit elegantes Italienisch zu
schreiben geführt.[39]
1589 muss Zhaoqing verlassen werden, geht es weiter in die Präfekturhauptstadt
Shaozhou.[40]
Ricci distanziert sich (und seine Gefährten) vom Auftreten buddhistischer
Mönche, betont Unterschiede zu diesen und Gemeinsamkeiten mit chinesischen
Literaten.[41]
Der Weg zur Erfindung der angeblichen a-religiösen chinesischen Staatsreligion
Konfuzianismus ist betreten.[42]
1589 beginnt auch der Austausch mit dem vergleichsweise irregulären Gelehrten
Qu Rukui.[43]
1593 beginnt Ricci erneut Chinesischunterricht zu nehmen.[44]
1594 erhält er bei einem Besuch in Macao offizielle Erlaubnis zum
Rollenwechsel.[45]
1595 findet Riccis Umzug (mit einem Zwischenaufenthalt in Nanking/Nanjing) nach
Nanchang statt.[46]
Dort beeindrucken Riccis Gedächtnisleistungen, seine Mnemotechnik interessiert,
erweist sich aber als für Chinesen wenig tauglich.[47]
[1]
Da ich (quasi) kein Chinesisch
kann (Zeichen und gesprochene Worte addiert ist die Summe meines Wortschatzes
geringer als zehn): befinde ich mich in diesem Kapitel in einer Situation in
der sich vermutlich in den anderen Kapiteln der eine oder andere Leser, die
eine oder andere Leserin befunden haben wird: Ein wesentlicher Teil der
grundlegenden Primär- wie Sekundärliteratur ist mir gar nicht zugänglich,
weitere Teile sind es nur in Übersetzung und/oder via Sekundärtexte
sprachkundigerer anderer Autor/inn/en. Fehler werden vermutlich die Folge sein.
Ich nehme sie in Kauf, und ermutige auch andere in bezug auf andere in anderen
Kapiteln dieses Bandes "einschlägige" Sprachen sich nicht durch
Sprachbarrieren von der Beschäftigung mit Philosophie der Renaissance abhalten
zu lassen. Zumindest für die untersuchende Person können derlei Untersuchungen
auch so intellektuell gewinnbringend sein (und u.U. auch Anregung die eigenen
Sprachkenntnisse in Zukunft auszubauen).
[2]
Eine Gesamtbibliographie der
(umfangreichen) Literatur zu Ricci ist mir nicht bekannt; eine hinreichend
vollständige solche Bibliographie zu erstellen ist mir selbst (schon allein der
erwähnten fehlenden Sprachkenntnisse wegen) nicht möglich. Zur Einführung und
für Bibliographien ausdrücklich empfohlen: Ronnie Po-chia Hsia: A Jesuit in the
Forbidden City : Matteo Ricci 1552-1601, Oxford [Oxford University Press]
2010 (im Folgenden: Po-chiaHsia2010)
(Bibliographie dort: pp. 342-349), und für schnellen Überblick auch: Rita Haub & Paul Oberholzer: Matteo Ricci und
der Kaiser von China : Jesuitenmission im Reich der Mitte, Würzburg
[echter] 2010, und noch kürzer: Sven Trakulhun:
Kulturwandel durch Anpassung? : Matteo
Ricci und die Jesuitenmission in China , in: "zeitenblicke"
11.1 (2012), URL: http://www.zeitenblicke.de/2012/1/Trakulhun
(gesehen 2013-03-11); ebenfalls (u.a. für Kontextualisierungsaspekte)
empfohlen: Lavinia Brancaccio: China accomodata : Chinakostruktionen in
jesuitischen Schriften der Frühen Neuzeit, Berlin [Frank & Timme] 2007
(jeweils auch mit Verweisen auf weiterführende Literatur). An älterer Literatur
vielleicht am weitesten verbreitet (und stilistisch ungewöhnlich bis
[mindestens] zur Sprengung von Genregrenzen) ist Jonathan D. Spence: The Memory Palace of Matteo Ricci, New York [Viking] 1984
(Bibliographie dort: pp. 319-337). Ein Überblick über die Ricci-Forschung des
20. (und frühesten 21.) Jahrhunderts findet sich Po-chiaHsia2010, pp. 299-308; auch er sei ausdrücklich
empfohlen. Ebenfalls ergiebig die bibliographischen Angaben in Matteo Ricci (ed. Filippo Mignini, trans. Nina Jocher):
Über die Freundschaft : Dell'amicizia, Macerata
[Quodlibet] 2005, pp. 71-75 (für Primärtexte und Editionen) und pp. 75-79 (für
Sekundärliteratur). Eine ausführliche
Zeittafel (Cronologia Ricciana) zu Riccis Leben, Wirken, Fortwirken
findet sich in Pasquale Maria D'Elia
(ed.): Fonti Ricciane ; Volume III :
Storia dell'introduzione del cristianesimo in Cina : Appendici e indici,
Roma [La Libreria dello Stato] 1949, pp. 20-39.
[3]
24. Januar 1601. Siehe Po-chiaHsia2010, pp. 205-207. Eine
Kurzchronologie zu Riccis Leben und seinen Schriften findet sich in Rita Haub & Paul Oberholzer: Matteo Ricci und
der Kaiser von China : Jesuitenmission im Reich der Mitte, Würzburg
[echter] 2010, pp. 45-47.
[4] Po-chiaHsia2010, p. 1.
[5] Po-chiaHsia2010, p. 4s.
[6] Po-chiaHsia2010, p. 5.
[7] Po-chiaHsia2010, p. 6s & p. 12.
[8]
Po-chiaHsia2010, p. 12sqq.; dort p. 16 zu Einfluss des Aristoteles
(Riccis Vertreten von dessen Logik und Elementenlehre in China) und Mathematik.
Für Klagen eines Dominikaners der Mitte des 16. Jahrhunderts über deplorablen
Zustand chinesischer Naturphilosophie siehe Po-chiaHsia2010, p. 59.
[9]
Po-chiaHsia2010, p. 19s für Japan und den Estado India. Sowie p. 20s & p. 311s für Ricci zugängliche
Literatur zu Missionsprojekten in Idien, Brasilien, China.
[10] Po-chiaHsia2010, p. 24s.
[11] Po-chiaHsia2010, pp. 26-28.
[12] Po-chiaHsia2010, pp. 28-35.
[13] Po-chiaHsia2010, p. 39.
[14] Po-chiaHsia2010, p. 49.
[15] Po-chiaHsia2010, p. 50.
[16] Po-chiaHsia2010, pp. 51-77 passim.
[17] Po-chiaHsia2010, p. 70.
[18] Po-chiaHsia2010, p. /!:
[19] Po-chiaHsia2010, p. 72.
[20] Zu
diesen: Pasquale Maria D'Elia: Recent Discoveries and new studies
(1938-1960) on the World Map in Chinese of Father Matteo Ricci, in:
"Monumenta Serica" 20 (1961), pp. 82-164.
[21] Pasquale
Maria D'Elia: Recent Discoveries and new studies (1938-1960) on the World Map in
Chinese of Father Matteo Ricci, in: "Monumenta Serica" 20
(1961), pp. 82-164, hier pp. 85-88). Zu dieser Version und ihren
Nachfolgern siehe auch Lionel M. Jensen:
Manufacturing Confucianism : Chinese
Traditions & Universal Civilization, Durham [Duke University Press]
2003, p. 37s. Zu einem unautorisierten Nachdruck dieser Version siehe Po-chiaHsia2010, p. 171.
[22] Pasquale
Maria D'Elia: Recent Discoveries and new studies (1938-1960) on the World Map in
Chinese of Father Matteo Ricci, in: "Monumenta Serica" 20
(1961), pp. 82-164, hier pp. 88-108 (mit reichlich Kontextualisierung!).
[23] Pasquale
Maria D'Elia: Recent Discoveries and new studies (1938-1960) on the World Map in
Chinese of Father Matteo Ricci, in: "Monumenta Serica" 20
(1961), pp. 82-164, hier pp. 108-114. Zu dieser Karte (die es auch als Globus
gab) siehe Po-chiaHsia2010, p. 183s.
[24] Pasquale
Maria D'Elia: Recent Discoveries and new studies (1938-1960) on the World Map in
Chinese of Father Matteo Ricci, in: "Monumenta Serica" 20
(1961), pp. 82-164, p. 120. Dass von all diesen chinesischen Weltkarten
Riccis wohl insgesamt weniger als ein Dutzend erhaltene Exemplare bekannt sind
(D'Elias Zahlen hochrechnend) spricht entweder für vergleichsweise geringe
Haltbarkeit oder vergleichsweise starke Benutzung, oder beides.
[25] Pasquale
Maria D'Elia: Recent Discoveries and new studies (1938-1960) on the World Map in
Chinese of Father Matteo Ricci, in: "Monumenta Serica" 20
(1961), pp. 82-164, hier pp. 114-116.
[26] Pasquale
Maria D'Elia: Recent Discoveries and new studies (1938-1960) on the World Map in
Chinese of Father Matteo Ricci, in: "Monumenta Serica" 20
(1961), pp. 82-164, hier pp. 120-158 (mit Abbildungen und reichlich
Kontextualisierung).
[27] Po-chiaHsia2010, p. 87
[28] Po-chiaHsia2010, p. 87; siehe oben
D'Elia zu diesem Druck.
[29] Po-chiaHsia2010, p. 171.
[30] Po-chiaHsia2010, p. 220.
[31] Po-chiaHsia2010, p. 256.
[32] Po-chiaHsia2010, p. 282.
[33] Po-chiaHsia2010, p. 73s.
[34] Po-chiaHsia2010, p. 79sqq.
[35] Po-chiaHsia2010, p. 92.
[36] Po-chiaHsia2010, p. 93. Zu diesem Text Po-chiaHsia2010, p. 93-96.
[37] Po-chiaHsia2010, p. 111.
[38] Po-chiaHsia2010, p. 105
[39] Po-chiaHsia2010, p. 106. Noch
eindrücklicher: Lavinia Brancaccio: China accomodata : Chinakostruktionen in
jesuitischen Schriften der Frühen Neuzeit, Berlin [Frank & Timme] 2007,
p. 117n150.
[40] Po-chiaHsia2010, p. 113-118.
[41] Po-chiaHsia2010, p. 118.
[42] Siehe
hierzu: Lionel M. Jensen: Manufacturing Confucianism : Chinese
Traditions & Universal Civilization, Durham [Duke University Press]
2003, und dort insbes. p. 4, p. 5 ("In this century in
China Confucius, the largely Western invention, inspired
a re-creation of the native hero, Kongzi ..." [Fettung durch mich]), p. 7 (zu den
Quellen der Namensform [Geistertafeln regionaler Tempel]), p. 48sqq (zur "Conversion to the Order of the Literati (Ru)", p. 59s (zur
Herstellung eines jesuitischkonfuzianischen Schriftenkanons), pp. 65-67 (zur
Präsentation des Konfuzianismus als a-religiös durch Trigault & al.). Siehe
auch Po-chiaHsia2010, p. 135 zu
Riccis Übersetzung der "Vier Bücher" ("Sì Shū") der
konfuzianischen Tradition ins Lateinische.
[43]
Po-chiaHsia2010, pp. 120-125. Qu Rukui (der u.a. ererbtes Vermögen
für Alchemie verschleudert hatte, und statt als Beamter zu wirken von anderer
Leute Geld lebend China durchwanderte) lernte von Ricci, half diesem durch
seine Beziehungen und intellektuellen Austausch. Kuriositätshalben: 1590/1591
stellt Ricci ein aus Mexico stammendes Bild von Madonna, Kind und Johannes auf
den Altar der Kapelle, was zu vielen täglichen Besuchern und zu nächtlichen
Steinwürfen führt; Qu Rukui rät zur Antwort hierauf und bezieht den Präfekten
ein (op.cit., p. 125). Vgl. auch Po-chiaHsia2010,
p. 129 zu einem Besuch in Nanxiong:
Aufenthalt bei Qu Rukui, Besuch in der Residenz des stellvertretend höchsten
Beamten der Stadt, Gegenbesuch des selben in Qus Haus, in der Folge Besuche
anderer Autoritäten der Stadt bei Ricci. Po-chiaHsia2010,
p. 136 zu Qus Einfluss auf Riccis Abwendung von buddhistennahem Auftreten.
[44] Po-chiaHsia2010, p. 135-137.
[45] Po-chiaHsia2010, p. 138.
[46] Po-chiaHsia2010, p. 141-150.
[47] Po-chiaHsia2010, p. 141-153. Riccis Mnemotechnisches Werk ist
Leithintergrund für Jonathan D. Spence:
The Memory Palace of Matteo Ricci,
New York [Viking] 1984. Eine Reprographische Wiedergabe und kommentierte
deutsche Übersetzung mit Einführung bietet: Michael Lackner: Das vergessene
Gedächtnis : Die jesuitische Abhandlung Xiguo Jifa / Übersetzung und Kommentar,
Wiesbaden [Frank Steiner Verlag] 1986. Dort p. 4 der zusammenfassende Hinweis,
dass Weise und Grad des Zusammenhangs mit Ricci lockerer/vermittelter sein
könnten als eine normale Autorzuwerkbeziehung, und pp. 11-18 zu möglichen
Gründen des Ausbleibens größerer chinesischer Wirkungsgeschichte.
<...>
Von beträchtlicher
Ausführlichkeit ist das Kapitel über Aberglauben und andere Irrtümer der
Chinesen.[1]
Unter der
Überschrift "Verschiedene
Sekten falscher Religion bei den Chinesen"[2]
steht sofort zu lesen:[3]
Ex omnibus Ethicorum sectis, quae quidem in Europa nostrae notitiam devenerunt, hactenus nullam legi, quae in pauciores errores inciderit, quam Sinarum gens prioribus antiquitatis suae seculis incidisse. In illius quippe libros lego, Sinas iam inde ab initio supremum & unum Numen adorasse, quod ipsi coeli Regem apellabant, vel alio nomine coelum & terram.Unter allen Sekten der Heiden von denen bislang in Europa zu uns Kenntnis gelangte, habe ich noch von keiner gelesen, die in weniger Irrtümer verfiel, als es das Volk der Chinesen in seiner allerältesten Zeit tat. In ihren Büchern nämlich las ich, dass die Chinesen schon von Anfang an eine höchste und einzige Gottheit verehrten, die sie selbst König des Himmels nannten, oder mit einem anderen Namen Himmel und Erde.
Vielleicht sei hierunter eine gemeinsame Seele von Himmel und Erde
verstanden worden.[4]
Weder diese Gottheit noch die ihr dienstbaren Geister seien je als so lasterhafte
Monster dargestellt worden wie bei unseren Römern, Griechen und Ägyptern (nostri Romani, Graeci, Ægypti); so
sei zu hoffen, dass viele von ihnen im Gesetz der Natur Heil fanden; und auch
viel Gutes steht von ihnen in ihren viertausend Jahre zurückreichenden Annalen
zu lesen.[5]
In späteren Jahrhunderten aber seien sie - wie es der menschlichen Natur ohne
Hilfe der Gnade entspreche - zum Atheismus degeneriert.[6]
Abgesehen von Spuren (vestigiis)
von Muslimen, Juden und Christen haben sie, so Trigault, drei Sekten, unter
diesen zuerst die der Gelehrten, die
den Chinesen eigentümlich, und die älteste sei.[7]
Mitgliedschaft in dieser Sekte erwähle man sich nicht, sondern nehme sie mit
gelehrten Studien in sich auf, alle bekennen sich zu ihr; Gründer bzw. Fürst
der Philosophen (Princeps
Philosophorum [den Westlern
das
klassische Epithet des Aristoteles]) sei ihnen Konfuzius.[8]
Die ursprünglichsten und wichtigsten von ihnen verehrten nur eine Gottheit.[9] Belohnungen für gute und Strafen für
schlechte Handlungen kennten sie, doch nur in diesem Leben, als Folgen entweder
für den Handelnden selbst, oder für dessen Nachkommen.[10]
Die neueren Anhänger dieser Gruppe lehrten, die Seelen gingen mit den Körpern
(oder kurz nach diesen) unter.[11]
Heutzutage verträten sie die - wohl vor ungefähr fünfhundert Jahren von den
Bilderanbetern (Taoisten) entlehnte - Ansicht, der ganze Kosmos sei eine
einzige Substanz.[12]
Sie hätten weder Tempel, noch Priester, noch verbindliche feierliche Riten.[13]
Tempel zur Verehrung der einen Gottheit
durch den Kaiser gebe es in den beiden Hauptstädten Nanking und Peking.[14]
HUIUS Literatorum sectae scopus, in quem omnis eius institutio collimat, est pax publica, & Reipublicae quies. Oeconomica etiam familiarum, & privata singulorum ad virtutem compositio. Quem in finem accomodata sane praecepta tradunt, eaque omnia innato nobis lumini, Christianaeque consona veritati. Celebrantur ab iis quinque combinationes, quibus omnis humanorum officinoprum disciplina continetur. Eę sunt patris ac filii, mariti & uxoris, domini & clientis, fratrum inter se maiorum ac minorum, sociorum denique aut aequalium. Has combinationes ipsi soli se assecutos putant, & eas ab externis populis aut nesciri aut negligi arbitrantur.Caelibatum damnant, polygamiam permittunt. Explicatissimum habent in suis libris alterum pareceptum Charitatis; Quod tibi non vis fieri, alterum ne feceris, &c.[15]
Das Ziel dieser Sekte der Gelehrten, für ihre ganze Einrichtung, ist der Öffentliche Friede und die Ruhe des Gemeinwesens. Und auch die Ökonomik der Familien und die private Zusammenstellung der Einzelnen zu den Tugenden. Zu diesem Ziel lehren sie völlig angepasste Regeln, die alle aus dem uns eingeborenen Licht stammen, und mit der christlichen Wahrheit übereinstimmen. Es werden von ihnen fünf Verbindungen gefeiert, unter denen alle Disziplin menschlicher Officia[16] enthalten ist. Diese sind <die Verbindung des> Vaters mit dem Sohn, des Ehemanns und der Ehefrau, des Herrn und des von ihm Abhängigen, die zwischen älterem und jüngerem Bruder, die von Gefährten oder Gleichen. Sie sind der Ansicht, dass allein sie diese Verbindungen begriffen haben, und vertreten, dass diese bei Ausländern entweder unbekannt oder vernachlässigt seien.EHELOSIGKEIT verdammen sie, Polygamie erlauben sie. Ganz explizit haben sie in ihren Büchern eine andere Regel der Liebe: "Was Du nicht willst dass man Dir tu', das füg' auch keinem andren zu." usw.
Von einigem wenigen abgesehen widersprechen ihre Regeln dem
Christentum durchaus nicht, auch wenn sie durch dieses in mehrerem
vervollkommnet würden.[17]
Als nächstes
werden die Buddhisten behandelt.[18]
Man könne sehen, dass sie den Philosophen unserer Gegenden[19]
in einigen Lehren gefolgt seien, so verträten sie z.B. es gebe vier Elemente (statt fünf wie fälschlicherweise die
Chinesen)[20]
sie vertreten mit Demokrit und anderen die Existenz vieler Welten, und scheinen ihre
Seelenwanderungslehre abwandelnd von den Pythagoräern übernommen zu haben.[21]
Die Lehre der Taoisten
wird als "dritte Lehre
weltlicher Religion" ("tertium
profanae Religionis dogma") vorgestellt,[22]
ihr Gründer ("Lauzu") als Philosoph.[23]
Dieser habe kein Buch zurückgelassen; nach seinem Tod hätten andere sich auf
ihn berufend unter seinem Namen aus verschiedensten Quellen einen Text namens
"Tausu"
zusammengestellt.[24]
Ihre Lehren und Praxis unterschieden sich in wenigem von Aberglauben.[25]
Der Gründer der Ming-Dynastie habe festgelegt, dass alle drei dieser Lehren zur
Unterstützung des Reichens bewahrt werden sollten, jedoch mit Vorrang der
Lehren der (konfuzianischen)[26]
Gelehrten.[27]
Trigaults auf
Ricci fußendes Werk blieb nicht das einzige das Leserinnen und Lesern
westlicher Sprachen von chinesischem Denken berichtete.[28]
Und Interesse daran war nichts was bald aufgehört hätte. Noch nach Mitte des
18. Jahrhunderts berichtet Jakob Brucker ausführlich über chinesische
Philosophie,[29]
erwähnt dabei auch Ricci.[30]
Wie schon im Falle des grundlegendsten Teils der Philosophie Europäischer
Tradition, der Logik (am Beispiel der Logik Rubius')[31]
so zeigt sich auch im Falle des auf den ersten Blick von Europäischen
Traditionen aus vielleicht "exotischsten" Teils der Philosophie: der
Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie: Der Traditionsbruch, der zum
Verlust der Auseinandersetzung mit den einschlägigen Texten der Renaissance
führte, erfolgte erst deutlich nach der Zeit über die der vorliegende Band
berichtet.[32]
[3] CES1617, p. 113.
[4] CES1617, p. 114.
[5] CES1617, p. 114.
[6] CES1617, p. 114.
[7] CES1617, p. 114s.
[8] CES1617, p. 115.
[9] CES1617, p. 115.
[10] CES1617, p. 115.
[11] CES1617, p. 115.
[13] CES1617, p. 116.
[14]
CES1617, p. 116s.
[15]
CES1617, p. 119; Kursivierung
in der Vorlage.
[16]
Ämter, Aufgaben, Rollen.
[17]
CES1617, p. 119.
[18] CES1617, p. 119sqq.
[20]
CES1617, p. 120s.
[21]
CES1617, p.121. Es werden dann Ähnlichkeiten zu Dreieinigkeitslehre
und Gregorianischem Gesang festgestellt (und nicht ausgeschlossen, dass der
Apostel Thomas von ihnen angerufen werde), und dann geurteilt dass sie "aber diesen Schatten der Wahrheit durch
schändlichste Nebel der Lügen auslöschten" ("Sed hanc veritatis umbram teterrimae
mendaciorum nebulae extinxerunt.").
[22] CES1617, p. 124.
[23] CES1617, p. 124s.
[24] CES1617, p. 125.
[25]
CES1617, p. 126 & passim.
[26]
Um das Mitdenken von (vielen und
großen) Anführungszeichen wird gebeten. (hck)
[27]
CES1617, p. 128. Ich habe eine extrem kurze Darstellung auch dieses
Kapitels gegeben; ausführlichere und gründliche Lektüre lohnt sehr, z.B. was
die chinesische Einstellung Götzenverehrung möge zwar vielleicht wirkungslos
sein, schade aber zumindest nicht, und Nähe zum Atheismus, betrifft.
[28]
Für Fallstudien zu (abgesehen von
Ricci) Bartoli und Kircher siehe Lavinia Brancaccio:
China accomodata : Chinakonstruktionen in
jesuitischen Schriften der Frühen Neuzeit, Berlin [Frank & Timme] 2007.
[29] Iacobus
Bruckerus: Historia Critica Philosophiae A Tempore Resuscitarum In Occidente Literarum
Ad Nostra Tempora : Tomi IV. Pars
Altera, Lipsiae [Impensis Weidemanni et Reichii] 1766, pp. 846-906: mit
reichlich Literaturangaben, die zeigen, dass das Interesse eines zahlreicher
Autoren war. (Bruckers Text steht online zur Verfügung u.a. unter http://books.google.de/books?id=IUxNAQAAIAAJ
[gesehen 20134-03-18]; Ich habe eine Digitalversion eines Exemplars der
University of Michigan verwendet: URL http://books.google.de/books?id=IJPNAAAAMAAJ
[gesehen 2013-03-18].)
[30] Iacobus
Bruckerus: Historia Critica Philosophiae A Tempore Resuscitarum In Occidente Literarum
Ad Nostra Tempora : Tomi IV. Pars
Altera, Lipsiae [Impensis Weidemanni et Reichii] 1766, p 874.
[31]
Siehe voriges Kapitel.
[32]
Die Auseinandersetzung mit
Chinesischer Philosophie ist wiedergewonnen: siehe zur Einführung z.B. David Wong: Comparative Philosophy : Chinese and Western, in: "The
Stanford Encyclopedia of Philosophy (SEP)" 2009-10-01, URL http://plato.stanford.edu/archives/fall2011/entries/comparphil-chiwes/
[gesehen 2013-03-18] und David Wong:
Chinese Ethics, in: "The
Stanford Encyclopedia of Philosophy (SEP)" 2013-03-13, URL http://plato.stanford.edu/entries/ethics-chinese/
(zukünftig wohl: http://plato.stanford.edu/archives/spr2013/entries/ethics-chinese/
) [gesehen 2013-03-19]. Eine Nutzung der rinascimentalen und frühen nicht-rinascimentalen
Traditionen außerchinesischer Auseinandersetzungen mit chinesischer Philosophie
hingegen scheint selten oder gar inexistent.
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