2015-08-11

Centuria I, Experimentum 37: Orte und Jahre: Ingolstadt 1577

Ausschnitte aus hck: "Philosophie der Renaissance": Teil 8




Hier nun der achte Teil der Ausschnitte aus meinem 2014 erschienenen Einführungsband zur Philosophie der Renaissance. Zum Kontext und für Auszüge aus dem Kapitel "München 2013" siehe hier. Auszüge aus dem vorigen Kapitel ("Wittenberg 1560") gibt's hier .


Hier die Ausschnitte:


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Ingolstadt 1577


            1577, das ist das Jahr, Ingolstadt, das ist der Ort,  in dem Antonius Balduinus[1] als Decanus pro tempore der philosophischen[2] Fakultät der dortigen Universität[3] genannt wird. Der Aufenthalt Balduinus' in Ingolstadt war vergleichsweise kurz: Vermutlich von 1570[4] bis 1576 hatte er in Dillingen unterrichtet,[5] spätestens ab August 1576 ist er Mitglied der Universität Ingolstadt, noch im Laufe des Jahres 1577 kehrt er nach Dillingen zurück.[6]
            Balduins philosophische Tätigkeit dort, in Dillingen, ist dank Ulrich G. Leinsles monumentaler Studie zur dortigen Philosophie[7] recht gut bekannt: Bereits im Jahr seiner Ankunft in Dillingen (1570) wendet er sich an den Ordensgeneral der Jesuiten um gegen Versuche des Dillinger Rektors die Lehrfreiheit der Professores zu beschränken zu protestieren;[8] im selben Jahr vertritt er im Anschluss an Augustinus Niphus, dass die Schlussfolgerung nicht Teil, sondern nur Wirkung eines Syllogismus sei[9] (dass dessen wesentliche Teile also Obersatz und Untersatz seien), und vertritt die Möglichkeit von Glauben und Wissen in ein und dem selben Menschen über ein und die selbe Sache;[10] 1571 (hier zurückhaltend/vorsichtig Positionen zur Gestirnslehre vertretend[11], aber okkulte, über Licht [und Wärme] und Bewegung hinausgehende Wirkungen der Gestirne nicht zugestehend,[12] einen eigenen tätigen Sinn [sensus agens] ablehnend,[13] die Sinne in Bezug auf ihr jeweiliges eigenes Objekt - aber auch nur in diesem Bezug - für irrtumsfrei erklärend und so radikalen Skeptizismus abwehrend)[14] und 1572[15] steht er zusammen mit einem Kollegen Disputationen zu Logik[16] und Physik vor,[17] 1573 allein der Disputation von 110 Thesen zur gesamten Naturphilosophie.[18] Zwischen 1571 und 1573 ist er einflussreich in Dillinger Diskussionen über den Fortbestand elementarer Formen.[19] Interesse für moralphilosophische Themen hingegen ist bei ihm für jene Jahre nicht nachweisbar[20] - abgesehen von einer einzigen, nur handschriftlich dokumentierten Disputation von 1571.[21] Für Balduinus spätere Dillinger Jahre 1574-1576 und 1577-(ca.?)1582 (als er als Studienpräfekt und Professor für Moraltheologie wirkte)[22] hingegen sind[23] keine philosophischen Stellungnahmen Balduinus' bekannt.


            Anders sieht es für die (obzwar kurze) Zeit seines Wirkens in Ingolstadt aus - wozu weiter unten.


[1]           Zu Antonius Balduinus siehe Heinrich C. Kuhn: [Lemma] Balduin, Anton in: Laetitia Boehm, Winfried Müller, Wolfgang J. Smolka & Helmut Zedelmaier (edd.): "Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München. Teil I: Ingolstadt-Landshut 1472-1826", Berlin [Duncker & Humblot] 1998, cl. 30a-30b, und die dort angegebenen Literatur.
[2]           Zu Philosophie in Ingolstadt zwischen 16. Und 17.Jahrhundert siehe: Joseph S. Freedman: Philosophy Instruction, the Philosophy Concept, and Philosophy Disputations Published at the University of Ingolstadt, c. 1550-c. 1650, in: Reimund V. Sdzuj, Robert Seidel & Bernd Zegowitz (edd.): "Dichtung - Gelehrsamkeit - Disputationskultur : Festschrift für Hanspeter Marti zum 65. Geburtstag", Wien [Böhlau] 2012, pp. 316-362.
            Freedmans Arbeit ist immens nützlich. Einigen der Aussagen, die sich dort - teils aufgrund von Freedmans eigenen Forschungen, teils unter Berufung auf Seifert - zu Entwickungen der dortigen Philosophie finden kann ich allerdings nicht zustimmen. Dies liegt wohl an unterschiedlicher Datenbasis. Ich selbst benutze eine Datenbank zu Ingolstädter Drucken vor 1800, mit (u.a.) 32441 Datensätzen zu Drucken und 57482 Datensätzen zu Exemplaren. Die Datenbank ist zu umfangreich um ihre Inhalte (wie etwa meine Lesenotizen zu Harry Potter unter http://www.phil-hum-ren.uni-muenchen.de/php/Kuhn/hp13/hckPensieveIndex.pdf [zu diesen siehe auch http://a-waffling.livejournal.com/68520.html , beides gesehen 2013-03-25]) in aufbereiteter Form als PDF-Dokument (o.dgl.) im Web zur Verfügung zu stellen. Ich bin aber jederzeit bereit die Datenbank für beliebige Zwecke in unterschiedlichen Formaten (Microsoft Access 2000 bis Microsoft Access 2007, XML, … ) zur Verfügung zu stellen. Bei Interesse kontaktiere man mich ( hck@lrz.uni-muenchen.de ) unter Angabe der Formatpräferenzen.
            Die erwähnten Differenzen zu Freedman sind primär folgende: p. 325 schreibt Freedman: "No encyclopedic philosophy disputations published at all during the 1580s could be located ... ". Die erwähnte Datenbank aber hat Edmundus Hollyng (praes.), Ioannes Vietor (proponens): Theses, Ex Philosophia Universa, Ingolstadii ; Sartorius 1584 (Gateway Bayern/BVB nennt an Exemplaren: UB Eichstätt 04/1 BO B I 15 , Studienbibliothek Dillengen V 726,11 , UBM 0001/4 Philos. 316). Der p. 325n43 (unter Berufung auf Seifert) genannten "aversion of the Ingolstadt Jesuits against dialectic (or: pratical logic)" entsprechen nicht die 95 Treffer zur Topik in meiner Datenbank (worunter - beispielshalben - aus der von Freedman behandelten Zeit - und der Grundthese Seiferts/Freedmans entsprechend nach 1576 - : Gretser 1590 [Disputatio philosophica de topica et locis] , Coscan 1618, Hell 1623 [Disputatio Philosophica De Recto Usu Terminorum. Sive De Suppositionibus Dialecticis], Muretus 1602; cf. etiam e.g. des Jesuiten Petrus Fonsecas Institutionum Dialecticarum Libri Octo, gedruckt zu Ingolstadt 1604.)
[3]           Zur Universität Ingolstadt in jener Zeit siehe Laetitia Boehm, Winfried Müller, Wolfgang J. Smolka & Helmut Zedelmaier (edd.): Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München. Teil I: Ingolstadt-Landshut 1472-1826, Berlin [Duncker & Humblot] 1998, und die dort angegebenen Literatur und Martin Mulsow: I. Die Vorgeschichte : Philosophie in Ingolstadt von 1472 bis zur Aufhebung des Jesuitenordens 1773 in: Hans Otto Seitschek (ed.): "Philosophie an der Ludwig-Maximilians- Universität : Die philosophische Lehre an der Universität Ingolstadt-Landshut-München von 1472 bis zur Gegenwart", Sankt Ottilien [EOS] 2010, pp. 17-30, insbes. p. 17-24, und die dort angegebene Literatur.
[4]           Zu seinem Wechsel im Jahre 1570 vom Collegium Romanum, der zentralen Ausbildungsstätte seines Ordens - der Jesuiten - in Rom nach Dillingen siehe Ulrich F. Leinsle: Dillingae Disputationes : Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555-1648, Regensburg [Schnell + Steiner] 2006, p. 19 & p. 50s. Leinsles Werk sei allen die sich für Themen wie die in diesem Kapitel verhandelten interessieren nachdrücklichst empfohlen!
[5]           Heinrich C. Kuhn: [Lemma] Balduin, Anton in: Laetitia Boehm, Winfried Müller, Wolfgang J. Smolka & Helmut Zedelmaier (edd.): "Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München. Teil I: Ingolstadt-Landshut 1472-1826", Berlin [Duncker & Humblot] 1998, cl. 30a-30b, hier cl. 30b.
[6]           Heinrich C. Kuhn: [Lemma] Balduin, Anton in: Laetitia Boehm, Winfried Müller, Wolfgang J. Smolka & Helmut Zedelmaier (edd.): "Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München. Teil I: Ingolstadt-Landshut 1472-1826", Berlin [Duncker & Humblot] 1998, cl. 30a-30b, hier cl. 30b.
[7]           Ulrich F. Leinsle: Dillingae Disputationes : Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555-1648, Regensburg [Schnell + Steiner] 2006: im folgenden zitiert als "Leinsle2006".
[8]           Leinsle2006, p. 51. Das Bemühen des Jesuitenordens zu brauchbaren und allgemeingültigen Regeln für den Unterricht nicht zuletzt der Philosophie an jesuitischen Lehreinrichtungen zu kommen zieht sich über Jahrzehnte hin, bis es seinen Niederschlag in der Ratio atque institutio studiorum Societatis Iesu von 1599 findet - die auch ihrerseits an keinem mir bekannten Ort je ein sklavisch blind exactissime umgesetztes Gerüst vorgab. Man täuscht sich Unterschiede zwischen Orten, Zeiten, Personen, Unterschiede zwischen dem Text von Vorgaben und deren Umsetzung zu unterschätzen: Der Orden und seine Regeln setzen Kontexte für Texte seiner Mitglieder, doch determinieren sie nicht die Inhalte dieser Texte. Nicht zuletzt am Beispiel einiger Texte des Antonius Balduinus lässt sich zur Verfügung stehen de und nutzbare Freiheit erkennen - was einer der Gründe war seine zur Zeit seines Wirkens zu Ingolstadt entstandenen Texte ins Zentrum des hier vorgelegten Kapitels zu stellen.
            (Dass es Ingolstadt und nicht Dillingen ist, das den titelgebenden Ort dieses Kapitels gibt, liegt daran, dass ich ins Gedächtnis zurückrufen wollte, dass auch wir heute als Lesende wie als Schreibende in Traditionen und institutionellen Kontexten stehen die unser Lesen und Schreiben bestimmen, und dies dadurch, dass ich mindestens ein Kapitel der hier vorgelegten Einführung in die Philosophie der Renaissance der Institution widme an der ich diese Einführung schreibe und ihre Themen wiederholt in Lehrveranstaltungen verwendet habe und verwende: der 1472 mit Sitz Ingolstadt gegründeten Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).)
            Zum Streit um die Lehrfreiheit jesuitischer Professores, Nutzen, Nachteil, Grenzen des delectus opinionum zwischen ca. 1565 und 1645 siehe Leinsle2006, pp. 48-59 und die dort angegebene Literatur; zudem, sowohl was Studie als auch was Editionen betrifft: unbedingt auch: Ladislaus Lukács (ed.): Ratio atque institutio studiorum Societatis Iesu (1586, 1591, 1599), Romae [Institutum Historicum Societatis Iesu] 1986. Zu Lehrfreiheit und ihren Grenzen in Dillingen vgl. auch Leinsle2006, p. 553. Leinsle2006, p. 559: "In der jesuitischen Frühzeit tritt deutlich Antonius Balduinus (Phil. 1570-1576) als durch die Zensur gemäßigter Vertreter averroistischer Thesen hervor."
[9]           Leinsle2006, p. 142/142n302. Zu humanistischem Charakter von Teilen dieser logischen Thesen siehe Leinsle2006, p.146/146n327 (Amondanus).
[10]          Leinsle2006, p. 152/152n357.
[11]          Leinsle 2006, p.257/257n71.
[12]          Leinsle2006, p.270; Leinsle2006, p.270n120: "neque […] imaginari necesse est" (Elipse bei Leinsle).
[13]          Leinsle2006, p. 385. Diese Position ist auch im Blick auf Balduinus' weiter unten angesprochene Positionen zum menschlichen Intellekt von Interesse.
[14]          Leinsle2006, p.386/386n176.
[15]          Zu seiner Auffassung der Logik als "instrumenteller Habitus" siehe Leinsle2006, p. 99; p. 99n77; zu seiner Auffassung der Kategorien als etwas von "begrifflich-logische<r> Natur" Leinsle2006, p. 121/121n197. Für Naturphilosophisches cf. Leinsle2006, p.299.
[16]          Zu Balduinus als Nominalist (Universalia als Ergebnisse von Vergleichen): Leinsle 2006, p. 155; siehe auch Leinsle2006, p. 360; für Ablehnung von species sensibiles in Anlehnung an Occam bereits 1571 siehe Leinsle2006, p. 388. Zur bei Balduinus zugrundeligenden oder begleitenden psychologischen Theorie sinnlicher Erkenntnis siehe Leinsle2006, p. 434 (zu Balduinus 1571 und 1573); zum  Zusammenhang vgl. Leinsle2006, p. 462; vgl. auch Leinsle2006, p. 440 zur memoria intellectiva und Leinsle2006, p. 547 (zur Zweifelhaftigkeit des Behaltens erworbenen Wissens nach der Trennung zwischen Leib und Intellekt im Tod). Cf. etiam Leinsle2006, p. 156: im Blick auf die Logik "Angesichts der Schulgebundenheit und Zensur der Thesen": "Deutlich eigenständige Züge vor allem bei Antonius Balduinus <…>" (außer Balduinus werden noch sieben weitere genannt, dabei Christoph Haunold als "die wohl glänzendste philosophische Begabung <…>, die Dillingen in dieser Zeit aufzuweisen hatte" bezeichnet.
[17]          Leinsle2006, p. 31 & p.31n22; Leinsle2006, p.366s/367n97 (Herz statt Hirn als Zentralorgan des menschlichen Körpers): vgl. auch seine Position von 1571 zum Semen als Wirkung von Herz und Hirn (Leinsle2006, p. 370 - dort auch zu 1573er Positionen zum Semen).
[18]          Leinsle2006, p. 31; p. 31n22; p. 41n73. Leinsle2006, p.392 zum Ort des Sehens als mathematischem - nicht anatomischem - Punkt; Leinsle2006, p. 399 zu eingeborener Luft (im Ohr); Leinsle 2006, p. 403 zum Riechorgan; Leinsle2006, p. 405/405n243 zu Hirn und Nerven als primäres Tastorgan (und Fleisch nur als Medium der Tastempfindung). Leinsle2006, p. 407 zur virtus aestimativa bei Tieren als analog zur virtus cogitativa bei Menschen. Leinsle2006, p. 396/396n206 zur Wirkung des Lichts auf das Medium. Leinsle2006, p. 171 zur Annahme von Dimensionen durch Balduinus; Leinsle2006, p. 219/219n299 zur Definition des "natürlichen Ortes" von Körpern (cf. etiam Leinsle 2006, p. 246n25). Für 1572er naturphilosophisches siehe auch Leinsle2006, p. 206/206n249; Leinsle2006, p. 261-265; Leinspe2006, p. 304/304n57. Vgl. auch Leinsle2006, p. 260: "Lediglich Balduin wagt es, 1572 eine Promotionsdisputation von der problematisierten anima caeli bis zur anima vegetans vorzulegen" und dazu Leinsle2006, p.260n83.
[19]          Leinsle2006, p. 325.
[20]          Leinsle2006, p. 471.
[21]          Leinsle2006, p. 473/473n45 ( p. 473n44).
[22]          Heinrich C. Kuhn: [Lemma] Balduin, Anton in: Laetitia Boehm, Winfried Müller, Wolfgang J. Smolka & Helmut Zedelmaier (edd.): "Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München. Teil I: Ingolstadt-Landshut 1472-1826", Berlin [Duncker & Humblot] 1998, cl. 30a-30b, hier cl. 30b.
[23]          Mir und Leinsle2006.








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            Die der Metaphysik gewidmete Disputation[1] hat nur einen einzigen Respondenten, Achatius Stiglerus aus München, Stipendiat des herzöglichen Collegium Albertinum;[2] in seinem Widmungsbrief an Herzog Albert schreibt er, er hoffe die Statements zur Metaphysik[3] seien dem Herzog desto willkommener, desto seltener sie bislang aus dem Ingolstädter Peripatetischen Spiele hervorgegangen seien.[4] Die Thesen seien von seinem Lehrer[5] aufgestellt, er, Stigler, habe's unternommen sie zu verteidigen und drucken zu lassen.[6]
            Die Aussage, dass alle Menschen von Natur aus wissen wollen, erstreckt sich nicht nur auf das was durch den eingeborenen Verstand erkannt werden kann, sondern auch auf das was nur durch Höheres Licht erkannt werden kann.[7] Abgesehen von der Belehrung durch andere kommen wir auf folgende Weise zu Wissen (Scientia): Aus wiederholter Sinneserfahrung entsteht Erinnerung, aus mehreren Erinnerungen Erfahrung, aus mehreren Erfahrungen Künste und Wissenschaften.[8] Kunst und Erfahrung gehen beide auf Einzeldinge, unterscheiden sich aber dadurch, dass die Kunst Kenntnis der allgemeinen Ursachen hat, während die Erfahrung die Gründe ihres Handelns nicht kennt, und lehrt allein aus Praxis und Gewohnheit vorzugehen.[9] Erkenntnis der Wahrheit ist schwierig, nicht aber unmöglich, wenn auch wegen Einschränkungen unseres Erkenntnisvermögens nicht mit Vollkommenheit.[10] Am schwersten ist Erkenntnis für diejenigen, die nicht wagen über wahrscheinliche Gründe (probabiles rationes: Gründe für die man Gründe aber keine Beweise angeben kann), hinauszugehen,[11] die die Wahrheit nicht in sich selbst finden wollen, sondern auf die Autorität anderer zurückgreifen wollen, nicht aus den Sachen selbst, sondern aus der Erkenntnis des Dozenten die Wahrheit bestimmen wollen.[12] Derlei ist aber nur in Bezug auf Sachen sinnvoll, die die Schärfe des menschlichen Verstandes übersteigen, wo das was zu glauben ist die Kirche Gottes vorträgt.[13] Wer aber in Schwierigem menschlicher Autorität (von der es fest steht, dass sie nicht frei von Irrtum ist) in allem folgen will, der stößt auf das größte Hindernis der Erforschung der Wahrheit - und der Autor davon ist Aristoteles.[14]

            Aristoteles habe gesagt die Platoniker hätten nicht die richtigen Ansichten zu den Wesen (quidditates)[15], von denen sie behaupteten, sie existierten getrennt von den Sachen, und die sie Species oder Ideen nannten. Ob aber Aristoteles die Ideen Platons zu recht verurteilte, werde er gleich bestimmen.[16] In der Tat finden sich mit nur einer conclusio Abstand zahlreiche conclusiones zur Ideenlehre Platons.
            Die Abhandlung solle nicht über alle Ideen gehen, sondern nur über die göttlichen.[17] Doch gibt es auch menschliche Ideen, die gewissermaßen kleine Schatten ("quaedam umbreculae") der göttlichen sind, und durch die wir erkennen und handeln.[18] Nur im Geist Gottes bestehen (subsistieren) die Ideen laut Platon durch sich selbst.[19] Es gibt nach Platon nicht mehr Ideen als es species der in der Natur existierenden Sachen gibt.[20] Einige behaupten, die Ideen seien nichts anderes als die außerhalb Gottes existierenden Sachen, in der Weise wie sie von ihm konzipiert sind.[21]

Alii vero rectius unitatem & pluralitatem Idearum ex eo colli||gunt, quod asserant Ideam dicere solam essentiam Dei, quatenus a creaturis est imitabilis & rerum omnium perfectiones repraesentat.[22]
Andere aber fassen richtiger die Einheit und Vielheit der Ideen daraus, dass sie vertreten, dass "Idee" nur die Essenz Gottes bezeichne, insofern sie von den Geschöpfen nachgeahmt werden kann, und die Vollkommenheiten aller Sachen repräsentiert.
Eine Welt also mit Geschöpfen, die den Schöpfer nachahmen - nicht die ewige Welt des Aristoteles mit ihrem extraweltlichen Gott.
            Das göttliche Wesen ist nicht gemäß einer je anderen Vollkommenheit die es von der Sache geschieden haben würde nachahmbar, sondern insofern es unser Intellekt unterscheidet; daher werden Ideen nur durch den Verstand als etwas Vielfaches unterschieden.[23]
Potest Idea definiri, forma separata a sensibilibus, immobilis, existens in mente divina, caussa eorum, quae producuntur, ut exemplar, finis & forma.[24]
Man kann die Idee definieren als eine von den sinnlich Wahrnehmbaren getrennte Form, die unbeweglich ist, im göttlichen Geist existiert, <und> Ursache der Hervorgebrachten ist, als Vorbild, Ziel und Form.
Die Ideen in unserem Intellekt aber unterscheiden sich hiervon dadurch, dass sie ihren Ursprung in den Sachen haben, und durch Tod oder Vergessen aus dem Intellekt gelöscht werden können.[25] Diese Ansichten Platons über die Ideen sind sehr übereinstimmend mit der Wahrheit, so dass es keinen gerechtfertigten Anlass für Widerstand von Peripatetikern gibt.[26] Daher glaube man Simplikios, der vertrat, dass Aristoteles Platon nicht in der Sache kritisiert habe, sondern nur versucht habe zu klareren Aussagen dazu zu kommen.[27]



            Was auch immer dies alles ist: unter anderem ist es Beleg dafür, dass zumindest soweit es um Balduinus geht, weder zu befürchten ist, dass Philosophie bei Dominanz jesuitischer Dozenten nur noch im Blick auf Theologie getrieben werde, noch dass zu befürchten wäre, Philosophie würde nur noch gemäß der communis opinio, als Mainstream-Philosophie geboten.




            Balduinus' Disputationen: Blanke Thesen, so wie sie uns überliefert sind, teils ganz ohne Begründungen, teils ohne irgend ausführliche solche, ohne Auseinandersetzung mit möglichen (und mindestens z.T. auch zeitgenössisch vorliegenden) Gegenargumenten und/oder alternativen Positionen: außerhalb von Hörsaal und Disputationsraum ohne die Möglichkeit (und damit auch ohne das Ziel an solch andren Orten) zu überzeugen: Genrebedingt sind diese Texte Balduinus' - obschon durchaus in jedem Sinne reizvoll - ohne Chance auf breitere Wirkung, über den Kreis der Studierenden und Kollegen des Jahres 1577 (und etwaiger anderer Jahre in denen Balduinus diese Thesen vertrat) gewesen und geblieben.
            Immerhin wissen wir welche Thesen Balduinus in seinen Texten vertrat. Die Lage ist anders bei dem worüber das folgende Kapitel (Montaigne 1588) handelt.



[1]           Balduinus: Prima.
[2]           Balduinus: Prima, Titelblatt.
[3]           Nach Balduinus: Prima, p. 1 erstreckt sich die Disputatio auf 12 Bücher der Metaphysik, und diese werden auch behandelt, doch in recht unterschiedlicher Inetnsität: I mit 11 conclusiones, II mit 21 conclusiones, II mit 1 conclusio, IV mit 16 conclusiones, V mit 1 conclusio, VI mit 10 conclusiones, VII mit 36 conclusiones (und nicht nur umfangsmäßig liegt hier ein Schwerpunkt der Disputatio), VIII mit 1 conclusio, IX mit 22 conclusiones, X mit 27 conclusiones, XI mit 1 conclusio, XII mit 26 conclusiones.
[4]           Balduinus: Prima, f. A3r: "… istos tanto fore gratiores Amplitudinae tuae, quanto rariores eiusdem argumentum Assertiones, ex ludo nostro Peripatetico hactenus prodierunt.". Dafür hieraus zu schließen die Disputatio gehöre dem serio-curiosa Genre an, die Thesen seien nicht als ernsthaft vertreten zu sehen: sehe ich keinen Anlass, weder was die Inhalte noch was die Gestalt betrifft scheint es um Paradoxes zu gehen. Das Peripatetische Spiel ist soweit ich sehe die Disputatio im Kontext des Corpus Aristotelicum. Die Aussage dass das bei Aristoteles zu findende "wahr" sei ist damit aber natürlich auch nicht gemacht - eine Aussage, die ja auch bei Paulus Venetus (siehe Kapitel "Padua 1408") und Niphus und Melanchthon (siehe Kapitel "Wittenberg 1560") deutlich nicht zu finden ist.
[5]           i.e.: Balduinus.
[6]           Balduinus: Prima, f. A3v.
[7]           Balduinus: Prima, conclusio 3, p.1.
[8]           Balduinus, Prima: conclusio 6, p.2.
[9]           Balduinus, Orima: conclusio 7, p. 2. Balduinus schriebt von Künsten, Erfahrungen.
[10]          Balduinus: Prima, conclusiones 13-19, p. 3.
[11]          Balduinus; Prima, conclusio 29, p. 4s.
[12]          Balduinus: Prima, conclusio 30, p. 5.
[13]          Balduinus: Prima, conclusio 31, p. 5.
[14]          Bladuinus: Prima: conclusio 32, p. 5. Andererseits wird Aristoteles von Balduinus durchaus "Philosophus" genannt: Balduinus: Prima, conclusio 41, p. 6.
[15]          Balduinus entscheidet sich hier (in clonclusio 74, und auch schon vorher) für skotistische Terminologie. Auf skotistische Anklänge hatte ich auch schon oben, betreffend seiner Anlehnung an die Intellektlehre des Durandus, verwiesen.
[16]          Balduinus: Prima, conclusio 74, p. 10: "colligit, Platonicos non recte statuisse quidditates rerum, separatim a rebus subsistentes, quas species seu Ideas appellarunt; verum an Aristoteles Ideas Platonis recte condemnaverit, iam mox definiemus.".
[17]          Balduinus: Prima, conclusio 76, p. 10.
[18]          Balduinus: Prima, conclusio 77, p. 10s.
[19]          Balduinus: Prima, conclusio 83, p. 11.
[20]          Balduinus: Prima, conclusio 84, p. 11.
[21]          Balduinus: Prima, conclusio 85, p. 11.
[22]          Balduinus, Prima, conclusio 86, p. 11s.
[23]          Balduinus: Prima, conclusio 89, p. 12.
[24]          Balduinus: Prima, conclusio 92, p. 12.
[25]          Balduinus: Prima, conclusio 93, p. 12.
[26]          Balduinus: Prima, conclusio 94, p. 12.
[27]          Balduinus: Prima, conclusio 95, p. 12. Simplikios findet sich auch - dort allerdings ohne namentliche Nennung - als Quelle eines Teils von conclusio 158 (p. 20), wo gesagt wird dass Aristoteles aus Eudoxos und Kalipp entnommen habe es gebe 56 Himmelssphären; Balduinus fügt (ohne für mich erkennbaren Grund oder Anlass) hinzu, Aristoteles habe aber die Zahl der Intelligenzen (die den Himmelskörpern zugeordnet sind) nicht mit natürlicher Kraft finden können - es sei denn Balduinus will hier auch die Intellekte der einzelnen Menschen als Intelligenzen sehen und darauf hinweisen, das Aristoteles nicht einzelmenschliche unsterbliche Intellekte angenommen habe.







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